Emmanuelle Loyer: "Lévi-Strauss. Eine Biografie"

Ein Jahrhundert französischer Geistesgeschichte

Der französische Anthropologe und Ethnologe Claude Lévi-Strauss am 8. Juni 2001 in Paris (Hintergrundbild). Buchcover (Vordergrundbild)
Buchcover: "Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biografie" und Claude Lévi-Strauss © Suhrkamp / AFP/ Joel Robine
Von Andrea Roedig · 07.12.2017
Emmanuelle Loyer schildert, wie aus dem jungen Philosophielehrer Claude Lévi-Strauss der Begründer der "strukturalen Anthropologie" werden konnte. Das Buch zeigt angenehm unaufgeregt Werk und Wirkung des berühmten Ethnologen.
Emmanuelle Loyer zeichnet in ihrer spannend erzählten Biografie akribisch nach, wie ein Pariser Philosoph namens Claude Lévi-Strauss zum Begründer der strukturalen Anthropologie, zum Neu-Erfinder der Ethnologie und zum großen Mythologen des 20. Jahrhunderts werden konnte.
1908 geboren, wuchs Claude Lévi-Strauss als einziger Sohn einer aus dem Elsass stammenden jüdischen Familie im Milieu des Pariser Großbürgertums auf. Er absolvierte zunächst den klassischen Bildungsweg mit Studium der Philosophie an der Sorbonne. Ein biografischer Abzweig tat sich auf, als der 26-Jährige Lehrer das Angebot erhielt, an der neu gegründeten Universität São Paulo Soziologie zu unterrichten. 1935 ging er mit seiner ersten Frau für vier Jahre nach Brasilien und wurde hier zum selbst ernannten Ethnologen; das Fach hatte er nie studiert.
Eine zweite Auslandsstation war das erzwungene Exil in New York, wo Lévi-Strauss ab 1941 an der New School of Social Research lehrte. Hier traf er den Linguisten Roman Jakobson, der ihn auf die entscheidende Idee brachte, die komplexen Verwandtschaftsbeziehungen der sogenannten "primitiven" Gesellschaften wie eine Sprache aufzufassen. Dies war der Grundstein für die "strukturale Anthropologie", die Lévi-Strauss später in seinem Buch "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft" (1949) entwickeln würde.
Lévi-Strauss und die Ohnmacht
Zweimal hatte er Frankreich für längere Zeit verlassen, aber Lévi-Strauss wurde kein Kosmopolit. Seine biografische Zugehörigkeit sei "hoffnungslos national" gewesen, schreibt Loyer. 1947 kehrte er aus den USA nach Frankreich zurück, fand aber nicht die wissenschaftliche Anerkennung, die er sich gewünscht hätte. Eher aus einer Frustration heraus schrieb er dann 1955 in nur vier Monaten das autobiografische Buch "Traurige Tropen", das ihn schlagartig berühmt machte und schließlich auch ans renommierte Collège de France brachte.
Emmanuelle Loyer, von Hause aus Historikerin, punktet in dieser Biografie nicht mit großen Skandalen oder intimen Enthüllungen. Vom Menschen Lévi-Strauss erfahren wir wenig, trotz seiner drei Ehen. Lévi-Strauss bleibt distinguierter Gentleman, ein schönes Detail verrät aber, dass er manchmal in Ohnmacht zu fallen pflegte, wenn er sich langweilte.
Die Biografin beherrscht ihr Material perfekt. Und Spannung erzeugt sie, indem sie zeigt, wie aus wie aus minimalen Abweichungen vom Normmodell des französisch-akademischen Karrierewegs bei Lévi-Strauss eine ganz neue Wissenschaft entsteht. Dabei beschreibt Loyer ausführlich nicht nur das Werk, sondern mehr noch die kulturellen und wissenschaftlichen Institute, in denen Lévi-Strauss arbeitete. Denn der Strukturalist ist schließlich selbst durch Strukturen bestimmt, und daher enthält diese reiche Biografie auch ein Jahrhundert französischer Geistes- und Institutionengeschichte.

Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biografie
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Suhrkamp 2017, 1088 Seiten, 58 Euro

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