Eltern von Profi-Sportlern in spe

Alles für die Karriere meines Kindes

Turner am Pferd
Wenn der eigene Sohn turnt und von einer Profi-Karriere träumt, stehen die Eltern oft stundenlang am Hallenrand... © Friso Gentsch / dpa
Von Maximilian Klein · 03.12.2017
Wenn das eigene Kind zum Profi-Sportler wird, müssen die Eltern einen Teil ihres eigenen Lebens ändern: Der Sport der Kinder wird zum elterlichen Fulltime-Job. Wäre es eine Lösung, die eigenen Kinder in ein Sportinternat zu geben? Viele Eltern überkommen Zweifel.
Ein Turner betritt die Matte. Vor ihm: ein Reck. Der Turner: Typ Instagram-Fitnessmodel. Er zieht sich hoch. Er holt Schwung. Rollen. Sprünge. Schrauben und zurück an die Stange. Körper. Kunst. Es scheint, als hätte nicht Newton das Sagen. Sondern allein der Turner.
Plötzlich, mitten in der Luft, lässt der trainierte Körper die Stange los. Doppelte Schraube, weg vom Reck. Landung. Gestanden! Die Gesetze der Schwerkraft gelten wieder.
Die Szene läuft auf dem Bildschirm eines Smartphones. Michaela Trebing hat es herausgeholt um zu zeigen, was sie die letzten Jahre beschäftigt hat. Ihre Aufgabe: Ihre Söhne, die Zwillinge Glenn und Louis zu fahren, zu betreuen und auch zu filmen. Sie sitzt in ihrer Küche. Schmale Hände wischen über das Display ihres Smartphones. Sie suchen in immer mehr Bildern und Videos nach dem noch eindeutigeren Beweis für die Leistung ihrer Kinder. Dokumente ihres Lebens. Zeugnisse ihrer letzten zehn Jahre Arbeit.
Familie Trebing lebt in Kassel. Die Häuser am Rande der Stadt sind bürgerlich. Amerikanische Briefkästen stehen vor gut gepflegten Rasenflächen. Diese silbernen, großen Brotbüchsen, an denen eine kleine rote Fahne signalisiert: Post. Im Haus der Trebings: Viel Glas, mit Blick über die Lichter der Stadt. Das Deckenlicht in der Küche ist gedimmt. Es wirft harte Schatten. Michaela Trebing ist zurückhaltend, aber nicht schüchtern.
Sie wirkt wie ein Teenager, als sie ihre Familiengeschichte zu erzählen beginnt. Es seien schon immer "sehr lebhafte" Kinder gewesen. "Die konnten sich auch schon mit sieben Monaten Treppen hochziehen, hochklettern. Haben sich überall hochgezogen, haben überall gestanden. Konnten schon früh laufen, unter einem Jahr. Und waren immer total beweglich"
Der Hund trabt durch die Küche. Der Mann arbeitet irgendwo im Haus. Sie ist allein. Jung war sie, als die Zwillinge kamen. Mit 28 Jahren musste sie ihr Leben umstellen, auf zwei bewegungshungrige Kinder. Deswegen habe sie schon sehr früh nach Sportangeboten wie Kinderturnen gesucht. "Damit ich sie noch ein bisschen anders beschäftigen kann als nur, dass ich mit ihnen auf die Spielplätze gehe." Mit zwei Jahren hätten ihre Söhne beim Kinderturnen angefangen. "Aber da ist natürlich nichts irgendwie so... Sondern: Da rennt man einfach durch die Halle."

Kickboxen, Leichtathletik, Ballett, Turnen

Ein Kind zu beschäftigen ist anstrengend. Zwei Kinder zu beschäftigen anstrengender. Langeweile? Ehrgeiz? Sport! Und wie in allen Familien wird ausprobiert. Bei den Trebings wurde sehr früh und sehr viel mehr experimentiert als in anderen Familien.
"Mit fünf Jahren haben sie dann auch Kickboxen angefangen", zählt Michaela Trebing auf. Dann Leichtathletik. "Mit fünf Jahren haben sie auch Klavier gelernt." Und Ballett.
In vielen Familien sieht das Ausprobieren so aus: erst Judo, dann Klettern. Schwimmen, dann wieder Basketball. Kinder und Eltern versuchen vieles. Und dann kommt der Alltag dazwischen. Hochgesteckte Ziele, Versprechen und regelmäßige Trainingsbesuche zerbröseln zwischen Abendbrotverabredungen, Zahnspangendiskussionen und vorpubertären Liebeleien. Doch hier lag etwas in der Luft. Das war von Kindesbeinen an klar.
"Eigentlich waren sie überall ganz gut", meint Michaela Trebing. "Beim Kickboxen waren wir auch auf deutschen Meisterschaften. Mehrfache Hessenmeister sind sie geworden. In dem Alter sechs bis neun. Bei der Leichtathletik waren sie auch gut. Auch da, was so Hochsprung und so was angeht. Wo man ein bisschen Beweglichkeit zeigen muss."

Ein Leben am Mattenrand und im Auto

Für Glenn und Louis gab es schnell nur noch zwei Bereiche im Leben: Sport und ihre Mutter. "Also, ich glaube, wir hatten montags immer Leichtathletik und Kickboxen", zählt Michaela den Wochenplan auf: Dienstag Turnen, Mittwoch Ballett, Donnerstag Turnen. "Freitags war vielleicht Leichtathletik. Samstags hatten sie Klavierunterricht. Und ja Turnen mochten sie eben besonders gerne." Und die Mutter musste lernen, Turnen genau so innig zu lieben wie ihre Söhne. Vom Mattenrand aus.
Am Anfang seien sie im deutschen Vergleich "natürlich super schlecht" gewesen, erinnert sich Trebing. Auf den Ergebnislisten von 2011 – "da waren sie, ich glaube Platz 47 und 49 hier in Deutschland. Und ich wundere mich so im Nachhinein, dass wir dann trotzdem weitergemacht haben. Weil, irgendwie war das so. Hier in Kassel waren sie super gut. Und dann fährt man auf einen deutschlandweiten Wettkampf und auf einmal ist man Vorletzter."
Den Niederlagen folgten Siege, Medaillen, Pokale. Viel Schweiß, aber auch Blut floss. Es bleibt beim Turnen. Konsequent und ehrgeizig. Das Trio: Glenn, Louis und Michaela verfolgen ein Ziel. Leistungssportniveau. Spitzenklasse: "Wo andere Kinder vielleicht mit elf, zwölf, 13 sich mit anderen Jungs getroffen haben oder Mädchen, sind wir halt trotzdem weiter zum Training gefahren."
Aufstehen. Zur Arbeit fahren. Dann die Kinder zum Training fahren. Immer wieder. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Und wieder.
"Gute fünf Jahre sind sie jetzt schon auf relativ gutem Niveau dabei", sagt Michaela, seit sie zwölf sind. Auf Leistungssportniveau. Mit zwölf Jahren. Hochleistungen, die tiefe Spuren im Privatleben hinterlassen. Auch ein Preis, den eine Familie bereit sein muss zu bezahlen für das Ziel: Siegertreppchen. Und wieviel Zeit bleibt ihr mit ihrem Mann? "Ich weiß es nicht", meint Michaela. "Dadurch, dass mein Mann das Büro im Haus hat, sieht man sich am Tag einfach immer so, im Vorbeigehen." So richtig hätten sie sich dann immer erst am Abend zum Essen gesehen. Und die Kinder "immer nur ganz spät abends".

Dazu kam die Schule. "Wo ich eigentlich große Befürchtungen hatte. Die haben zwar wiederholt. Aber ich habe recht schnell gemerkt mit dem Druck der Oberstufe und das Training und die ganzen Lehrgänge der Kader auf Bundesniveau: Das wird nicht funktionieren." Sport auf Hochleistungsniveau? Das funktioniert nur im Sportinternat.

"Die Eltern können das teilweise nicht mehr leisten"

Olympiastützpunkt Hannover. Vom Parkplatz aus kann man in das 96er Stadion schauen. Kleinbusse parken nebeneinander. Sie dienen als kleine Mannschaftswagen für den Tischtennis-Verband. Leichtathletik. Hinter dem Stützpunkt liegt das Sportinternat. Jungen und Mädchen in allen Altersklassen laufen in Trainingsklamotten herum. Große Taschen werden hin und her getragen. Auf einem Schild aus Plexiglas direkt neben der Tür: Eliteschule des Sports.
Ja, es gibt immer wieder auch Familien und Eltern, die sich tatsächlich auch über Jahre in der Begleitung ihrer Kinder Richtung Leistungssport aufgerieben haben", sagt Andreas Bohne. Er ist Internatsleiter am Olympiastützpunkt in Hannover. Sein Büro liegt direkt neben dem Eingang. Hier sieht er, wer ein und aus geht. Er entscheidet, wer kommt rein, wer nicht. Und er kennt die Geschichten von Eltern, die für ihre Kinder ein Leben im Auto verbringen.
"Dann fahren die Eltern erst einmal, dann zweimal die Woche" zum Olympiastützpunkt, erzählt er. Dann dreimal, manchmal sogar viermal. "Teilweise über 50, 60, 70 Kilometer ein Weg. Dann sitzen sie auf dem Hinweg eine Stunde im Auto. Dann auf dem Rückweg eine Stunde im Auto. Sitzen hier drei Stunden täglich vor der Halle, warten auf ihre Kinder. Diese Geschichten kennen wir. Die hören wir sehr häufig." Nach ein paar Jahren seien die Eltern dann müde. Dazu kämen "die Geschwisterkinder, die vielleicht kein Leistungssport machen, die fordern auch mehr Aufmerksamkeit ein. Die Eltern wollen und können das teilweise auch nicht mehr leisten."
Vielen fällt die Entscheidung nicht leicht, ihre Kinder in einem Sportinternat anzumelden. Aber Sportinternate unterscheiden sich von anderen Schulen und Internaten, erklärt Andreas Bohne.

Meist müssen die Eltern vom Internat überzeugt werden

"Das liegt natürlich auch daran, dass Sportinternate in Deutschland ja im wesentlichen eine Eliteförderungseinrichtung sind." Kinder und Jugendliche, die sich früh in ihrem Leben dem Sport widmen, wissen, was sie wollen. Und sie sind es, die meistens schon mit einem Ortswechsel in Gedanken spielen, noch bevor die Eltern es wagen, in diese Richtung zu denken.
"Ich weiß gar nicht, ob sich Eltern immer entscheiden, ihr Kind auf ein Sportinternat zu schicken", sagt Bohne. "Ich glaube es ist eher so, dass sich häufig erst die Kinder entscheiden, das sie auf ein Sportinternat wollen." Die Eltern würden dann sehr oft "in einem längeren Prozess" überredet werden. "Meistens wollen die Kinder hierher – und die Eltern müssen überzeugt werden."
Das System des Leistungssports ist komplex. Andreas Bohne beschreibt es als so komplex, dass es Jahre braucht, um alle Details und Rädchen zu kennen und zu verstehen. Es gibt den Deutschen Olympischen Sportbund. Die Vereine. Die Partnerschulen des Sports. Die Internate. Die Deutsche Sportförderung. Und die einzelnen Dachverbände der Sportarten. Spezielle Lehrgänge. Landes- und Bundestrainer.
Alle arbeiten zusammen. Aber nicht immer und nicht überall gleich. In jedem Bundesland wird anders verfahren. Mal schlechter. Mal besser. Mal effizient. Mal eben auch nicht. Und es ist ein System, das nicht für alle gedacht ist. "Das heißt, es können gar nicht viele junge Leute auf Sportinternate gehen, wie vielleicht gerne wollen würden, sondern die Auswahlkriterien sind relativ streng."
Deutschland ist das Land der Vereine. Sie sind die Keimzelle des öffentlichen, sportlichen Lebens. Auch des Leistungssports. Ohne die Vereine gäbe es keine großen Sportkarrieren: Blau Weiß Leinen – Boris Becker. SG-Neukölln – Franziska von Almsick. SC-Dynamo Klingenthal – Sven Hannawald.
"In der Diaspora, auch von dort kommen gute Talente", sagt Bohne. "Und auch von dort kommen spätere Olympiasieger." In diesen kleinen Vereinen seien es vor allem "die Ehrenamtlichen", die Eltern von Jungen und Mädchen, die dort die Kernarbeit machen.

Der Traum von Olympia

Es wird von Leistungssport gesprochen, wenn es der Sportler in einen Kader geschafft hat. Im P-Kader fängt alles an. Auch für die Trebings. Ab dann schwebt ein großes Ziel, ein Traum im Raum: Olympia. Und dieser Traum ist institutionalisiert. In Form von olympischen Stützpunkten. Sie sollen Ansprechpartner sein. Für Sportler. Trainer und auch Eltern. Die Stützpunkte selbst beschreiben ihre Arbeit so:
"Olympiastützpunkte sind Betreuungs- und Serviceeinrichtungen für Bundeskaderathletinnen. Ihre Hauptaufgabe liegt in der Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen komplexen sportmedizinischen, physiotherapeutischen, trainings- und bewegungswissenschaftlichen, sozialen, psychologischen und ernährungswissenschaftlichen Betreuung, insbesondere für die Olympiavorbereitung des TopTeams im täglichen Training beziehungsweise bei zentralen Maßnahmen der Spitzenverbände."
Der deutsche Sport profitiert von einer Organisationsform, auf die die ehemalige DDR stolz war. "Das gab es ja in der ehemaligen DDR in Form der Kinder und Jugendsportschulen", so Bohne. "Aus diesen Kinder und Jugendsportschulen sind ja zahlreiche Eliteschulen des Sports in den neuen Bundesländern hervorgegangen, die heute noch erfolgreich arbeiten."
Bis heute sind es die Stützpunkte in den neuen Bundesländern, die besonders viele Erfolge feiern. Und besonders viele Sportler betreuen. Sport war in der DDR hochpolitisch. War ein Familienmitglied im Osten Spitzensportler und erfolgreich, konnte das Vorteile für alle im näheren Umfeld mit sich bringen.
Heute ist die Spitzensportförderung ganz wesentlich an das Bundesinnenministerium gekoppelt. Unpolitisch ist das Thema damit auch nicht. "Und im Westen wurde dann nach der Wende, ich will nicht sagen, das System kopiert, aber es wurden eben teilweise strukturelle Entscheidungen getroffen, Systeme entwickelt, die das ein bisschen auch nachbilden sollten." So formuliert es Internatsleiter Andreas Bohne.
Die Partnerschule, die mit dem Olympiastützpunkt-Hannover und dem Internat zusammenarbeitet, liegt ganz in der Nähe. Das Humboldtgymnasium hat 1000 reguläre Schüler, 100 von ihnen sind Leistungssportler. Das Verhältnis 90 Prozent zu zehn Prozent ist ein bundesweites Modell. Die zehn Prozent Leistungssportler werden im Besonderen gefördert. Schule und Leistungssport. Eine Beziehung, die schnell zum Rosenkrieg ausufern kann.

Schulunterricht – passend zum Trainingsplan

"Ja, die Probleme sind hauptsächlich, Sport und Schule unter einen Hut zu kriegen", erklären Anke Linkcke und Gunter Sack. Sie sind Lehrer am Humboldtgymnasium. Mit speziellem Auftrag. Sie helfen das Managerpensum ihrer sportlichen Schützlinge zu organisieren. "Dass zum Beispiel ein Frühtraining zu einer Zeit liegt, wo normalerweise der Schulunterricht stattfindet. Das heißt, der Unterricht muss verlegt werden. Und wenn die Sportler auf Lehrgängen sind, dass dann eben Unterricht wegfällt, der dann aufgearbeitet und nachgeholt werden muss."
Die Schule neben den vielen Trainingseinheiten zu absolvieren, ist für viele eine große Hürde. Es bedarf Tugenden. Tugenden wie: Struktur. Disziplin. Eiserner Wille. Er muss für beide Seiten da sein. Training und Mathe, Deutsch, Erdkunde, Latein, Biologie, Chemie, Physik, Deutsch, Englisch, Geschichte, Spanisch...
"Wir haben das komplette Spektrum wie bei anderen Schülern auch. Also zu den besten Abiturienten gehören auch immer Sportlerinnen und Sportler, die Leistungssport betreiben. Manche muss man eigentlich überhaupt nicht fördern. Die sind so strukturiert. Die haben ihr Training sehr klar fokussiert. Die wissen genau: Wo sind meine Freiräume, wann kann ich lernen, wie kriege ich meinen Alltag geregelt. Es gibt aber auch manche, die das nicht geregelt bekommen."
Auch hier ist die Struktur komplex. Die Schulen unterstehen den Kultus- oder Bildungsministerien der Länder. Der Leistungssport manchmal auch dem Innenministerium. An allen 19 Olympiastützpunkten wird etwas anders gearbeitet. Am Gymnasium in Hannover funktioniert die Zusammenarbeit, glaubt Gunter Sack. Das Kultusministerium stelle mehr Stunden zur Verfügung, "die wir genau in die Förderung der Sportler stecken. Und das heißt, wenn Nachholunterricht gemacht wird, dann wird das auch eins zu eins vergütet."

Damit Schule und Sport funktionieren, muss Zeit aufgewandt werden. Zeit, die es im Schulsystem immer weniger gibt. Die Umstellung auf G8, die ein ganzes Schuljahr eliminierte, war für viele Leistungssportler eine Katastrophe.
"Ich denke, ein wesentlicher Grund, warum sie gewechselt haben, ist eben, dass wir hier die Möglichkeit haben, die Verweildauer in der Qualifikationssphäre – für das Abi – von zwei Jahren auf drei Jahren erhöhen können. Ohne dass es Folgen hat. Das heißt, sie müssten normalerweise 68 Wochenstunden leisten. Das sind 34 Wochenstunden, die pro Woche absolviert werden müssen. Dann kann man sich überlegen, wieviel Zeit für Training bleibt. Durch die Streckung vermindern wir die Stundenlast. Und so haben sie im aller höchsten Fall 28 Stunden pro Woche."

Ein voller Terminkalender

Leistungssport und Schule unter einen Hut zu bekommen, auch bei Familie Trebing war das lange Zeit ein Problem. Bis heute fällt den Zwillingen die Schule nicht leicht. Aber auch da sprang ihnen Mutter Michaela zur Seite. Half und suchte den Kontakt mit den Lehrern. Ohne sie wäre ein Erfolg kaum möglich gewesen, antwortet Gunther Sack blitzschnell:
"Bin ich mir hundertprozentig sicher. Die hat sich ja auch unglaublich eingesetzt, auch als es im schulischen Bereich kriselte, war sie sehr präsent und hat Gespräche geführt. Und hat gesagt, wo sind die Knackpunkte und was können wir machen. Ich denke ohne die Eltern, ohne so eine intensive Begleitung wären sie nicht da wo sie jetzt sind."
Irgendwie geht es immer um Leistung. Freiräume gibt es kaum im Terminkalender. Kinder und Teenager. Aber: Sturm und Drang funktionieren auch zwischen Barren, Schulheft und Präsentation.
"Naja, also die wissen auch, wie man Party macht. Also, die haben nicht nur Entbehrungen. Die müssen wahrscheinlich auch die kurzen Zeiten, die sie haben um zu regenerieren, abzuschalten. Die können sehr schnell den Schalter umstellen von Fokussierung auf Leistung auf Spaßhaben im Leben."
Es ist Abend. Regen über dem Internat in Hannover. Die Zwillinge Louis und Glenn haben endlich Zeit für ein Interview. Seit ein paar Stunden sind sie zurück aus Italien, von einem Wettkampf. Sie sind unzufrieden. Bei ihnen ist ihre Mutter Michaela. Das erste Mal sieht man sie jetzt zusammen. Man spürt ihre Innigkeit und das Vertrauen zueinander. Das innige Band einer Familie. Die Jungs halten ihrer Mutter die Türen auf. Körpersprache. Signale. Man spürt, das sie ihren Jungs zeigen will: Das Gespräch mit dem Journalisten ist okay, das könnt ihr machen. Und die Jungs folgen dem Signal ihrer Mutter.
"Wir hatten halt eine andere Kindheit. Wir hatten viel Spaß immer durch den Sport. Dadurch das wir auch schon immer viele Erfolge früher hatten. Aber dieses Klassische: Komm wir gehen mal raus spielen, hatten wir nicht."
Im Internat läuft keiner mehr über die Flure. Es ist still. Glen und Louis sitzen ruhig vor dem Mikrofon. Halbe Erwachsene mit den zarten Gesichtszügen ihrer Mutter.

"Durch unsere Mutter ist so ziemlich alles möglich geworden"

"Es war jetzt nicht unser Wunsch unbedingt hierherzugehen. Es war mehr ein Müssen, vom Bundestrainer aus. Dass alle Bundeskaderathleten auf einen Olympiastützpunkt wechseln müssen. Es ist ungern gesehen und wird weniger gefördert."
Vor einem knappen Jahr sind die beiden 17-Jährigen ausgezogen. Haben Kassel verlassen und leben jetzt in einem 15-Quadratmeter-Zimmer. Das Zimmer sieht aus wie Zimmer eben aussehen von Pubertierenden. Gepflegtes Chaos.

"Klar, diese Pubertätssache. Da hat man immer Angst vor, dass man da in so ein Loch fällt und nicht mehr rauskommt. Das haben aber Glenn und ich ganz gut hinbekommen. Weil wir uns immer gegenseitig gezogen haben. Die Angst, dass wir deswegen aufhören, war nie so da."
Michaela Trebing sitzt draußen vor der Tür. Zusammengerollt auf einer Couch, in ein Buch vertieft. Sie ist nicht weit weg von Glenn und Louis. Das ist sie nie.
"Ich glaube, ohne unsere Mutter würden wir vielleicht, wahrscheinlich gar nicht mehr turnen. Wahrscheinlich überhaupt gar kein Sport mehr machen. Und einfach ein normales Leben führen. Und durch unsere Mutter ist so ziemlich alles möglich geworden. Es gibt sicher noch andere Mütter, die das schaffen. Aber in Prozent sind das unter zwei Prozent, die auch den Willen haben, Kinder so zu fördern."

"Muttersein bedeutet irgendwie, keine Erwartungen zu haben"

Kinder fördern ist das eine. Sich selbst aufzugeben für die Kinder, das war für viele im Umfeld von Michaela Trebing schwer nachzuvollziehen.
"Sie arbeitet den ganzen Morgen. Ist vor uns schon aus dem Haus gegangen. Und ist dann für uns von der Arbeit wieder zur Schule gefahren. Hat uns zum Training gebracht. Sie hat mehr gemacht, als alle anderen zusammen."
Seit einem Jahr sehen sie ihre Mutter nur noch einmal in der Woche, immer Mittwochs. Dann kommt sie zum Wäschewaschen. Sie will es so. Mag die Stadt. Dann gehen sie immer essen. Die Jungs gerne Fastfood.
"Sie ist auf jeden Fall ein bisschen freier geworden. Was extrem auffällt, sie kommt mehr oder weniger jede Woche mit einem neuen Tattoo hierher, zeigt sie uns immer ganz stolz. Was ich auch gut finde. Das zeigt so ein bisschen, dass sie jetzt ihr eigenes Leben führen kann."
Ein Tattoo, eine Art Dreieck ziert die Hand von Michaela Trebing. Sie habe es auf Instagram irgendwo gefunden. Sie zeigt weitere Formen und Symbole. Die meisten bedeuten Glenn/Louis oder Einheit. Sie trägt sie für sich. Für sich alleine. Lange war sie unsichtbar. Auch für die Vereine. Und die Trainer. Das verletzte sie. Verbittert wurde sie nicht.
"Und dann habe ich mir so gedacht, hey, du hast mich jetzt acht Jahre lang nicht beachtet. Weil mein Sohn auf einmal jetzt eine Leistung zeigt, die du meinst, dass man die würdigen kann. Dann muss man mir jetzt nicht auf einmal die Hand geben. Wenn du das vorher nicht konntest, dann möchte ich es jetzt auch nicht mehr haben. Also, diese Sachen habe ich schon in diesem elitären Sport gelernt, das ich da halt so denke. Man muss Menschen nicht erst beachten, wenn sie ein gewisse Leistung bringen."
Sie schaut, wischt wieder durch Fotos, von sich, den Jungs. Denkt nach, über ihr Leben, das sie zehn Jahre dem Leistungssport gewidmet hat. Über ein altes Leben, das in den Fluren eines Internats endet. Und über ein Neues, das jetzt vor ihr liegt.
"Ich habe mal irgendwann einen ganz coolen Spruch gelesen. Muttersein bedeutet irgendwie, keine Erwartungen zu haben und irgendwie auch niemals so ein Danke."
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