Querschnittslähmung

Der große Traum vom Laufen lernen

28:05 Minuten
Eine junge Frau geht geführt durch ein hüfthohes Schwimmbecken.
An der TU Berlin wird erforscht, wie sich Elektrostimulation im Wasser als Therapie bei Lähmungen einsetzen lässt. Die querschnittsgelähmte Krisztina ist die erste Probandin. © Thomas Schauer, Technische Universität Berlin
Von Philipp Lemmerich · 19.09.2021
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Über 100.000 Menschen in Deutschland sind querschnittsgelähmt. In Berlin experimentieren Forscher an einer neuen Therapie: Elektrostimulation im Wasser. Bei ihrer ersten Probandin weckt das große Hoffnungen. Heilung versprechen sie nicht.
Das Wasser gluckst, es ist schwülwarm und riecht nach Chlor: Ein therapeutisches Schwimmbad in Berlin-Mitte. Sieben mal Fünf Meter, bauchnabelhohes Wasser, allerlei Trainingsgerät.
"Wir stimulieren einmal durch den Torax oder durch den Oberkörper durch."
Versuche mit Strom im Schwimmbad – besser nicht, möchte man meinen. Doch für Constantin Wiesener und Thomas Schauer gehört das zur alltäglichen Arbeit. Krisztina, die Probandin – eine schlanke Frau Anfang 30, die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden – sitzt am Wasserrand, ihr Oberkörper voller Elektroden.

Stromstöße von 40 Milliampere

"Das ist sogar sehr angenehm. Ich habe immer Gänsehaut, wenn man die Stimulation startet. Ich kann nicht erzählen warum, aber das fühle ich durch den ganzen Körper, und das ist wirklich angenehm. Dann fühle ich mindestens was."
Krisztina hat einen großen Traum: endlich wieder laufen lernen. Seit zwei Jahren ist die gebürtige Ungarin nach einer Tumorerkrankung querschnittsgelähmt. Jetzt lässt sie sich bereitwillig Stromstöße verabreichen. 40 Milliampere werden durch ihren Körper gepumpt.
"Für mich fühlt sich das an, als ob jemand mit voller Wucht eine Faust in den Rücken rammt. Die Hälfte der Intensität und ich weine fast."

Krisztina ist die erste Probandin

Constantin Wiesener ist Projektmitarbeiter an der TU Berlin, Abteilung Regelungstechnik. Elektrotechniker also. Thomas Schauer ist sein Chef und Doktorvater. Gemeinsam erforschen sie, wie sich Elektrostimulation im Wasser als Therapie bei Lähmungen einsetzen lässt.
Krisztina, die erste Probandin des Forschungsprojekts, sitzt auf einer Plastikliege am Beckenrand. Bevor die Anwendung beginnt, testen die Wissenschaftler die Stimulation im Trockenen.

Die Oberschenkel einer jungen Frau mit aufgeklebten Elektroden.
Kurz vor dem Training: Krisztinas Oberschenkel sind mit Elektroden bestückt.© Thomas Schauer, Technische Universität Berlin

"Den Effekt, den wir die Woche davor gesehen haben, dass quasi über das linke Bein das rechte Bein mit angesprochen werden kann; also immer wenn das linke Bein gebeugt wurde, ist das rechte Bein nach vorne gekommen und wurde gestreckt – das konnten wir heute leider noch nicht so sehen. Aber jeder Tag ist eben auch anders für die Muskelnerven. Gucken wir einfach mal weiter. Wir lassen jetzt im Wasser die Stimulation einfach am Rücken mitlaufen und machen jetzt das Gangtraining im Wasser."

Mit Schwimmnudel und Stimulationsbox

Ein Patientenlift – ein kleiner Kran, an dem die Plastikliege befestigt ist – hebt Krisztina ins Wasser. An ihrem Rücken klebt eine kleine Box, das Stimulationsgerät. Unter ihren Armen klemmt eine Schwimmnudel, blauer Schaumstoff, der Auftrieb gibt. Wiesener steht rechts, Schauer links, jederzeit bereit einzugreifen. Das Training kann beginnen.
Was Thomas Schauer und Constantin Wiesener da machen, ist Pionierarbeit. Grundlagenforschung. Bislang wird Elektrostimulation nur im Trockenen eingesetzt. Aber im Wasser fühlen sich die Patienten freier, die Beine sind leichter, es gibt keine Sturzgefahr.
Krisztina steht nun im Wasser, die Beine leicht eingeknickt, mit ihren blauen Schwimmschuhen aus Gummi berührt sie den Boden. Sie setzt den linken Fuß vor den Rechten, ganz langsam, aber zielstrebig, und stößt sich ein kleines Stück vorwärts. Das Schwimmbecken ist etwa sieben Meter lang, für eine Bahn braucht sie gut und gerne eine Minute. Aber es funktioniert: Krisztina kann laufen. Zumindest für einen Moment.

Zwölf Bahnen in einer halben Stunde

"Das ist sehr schwierig. Also gelähmte Muskulatur versuchen zu bewegen, wenn überhaupt nichts passiert, kann man auch schwitzen und sehr müde zu sein. Also nach fünf Minuten auch. Man versucht mit allen Zellen etwas zu machen."
Ganze zwölf Bahnen geht Krisztina auf und ab – so viel wie noch nie. Nach einer guten halben Stunde ist Schluss, die Kraft lässt nach. Die beiden Forscher setzen die Probandin auf die Liege und heben sie wieder aus dem Wasser.
"Von den Malen zu Malen sehen wir, dass das Gehen besser wird. Und heute haben wir das erste Mal Krisztina alleine gehen lassen. Und das hat richtig gut geklappt. Und eben haben wir ja gesehen, wie viel Kontrolle im linken Bein wieder ist, in der Hüfte, im Knie und im Fuß. Und das große Ziel ist, dass das rechte Bein auch wieder mitmacht. Constantin und ich haben im Zeh schon etwas gefühlt. Hoffen wir mal, dass das mehr wird mit der Zeit."
"Ich gehe nach Hause, esse etwas und gehe ins Bett."

Der Rhythmus erzeugt Bewegungen

Ein anderer Tag, ein paar Kilometer Luftlinie entfernt in Berlin-Charlottenburg. Technische Universität, Institut für Elektrotechnik. Ein funktionaler Bau mit langen Gängen. Thomas Schauer und Constantin Wiesener sitzen in einem schmucklosen Büro. Bücher, Tische, einige Computer. Das Training mit ihrer Probandin haben sie mit einer Unterwasserkamera gefilmt, jetzt werten sie die Aufnahmen aus.
Eine junge Frau sitzt auf einem fahrbaren Sitz im Schwimmbad.
Unterstützt von elektrischen Impulsen kann die Probandin das Bein heben.© Thomas Schauer, Technische Universität Berlin

Thomas Schauer – ein ruhiger, besonnener Mensch Mitte 40 – forscht schon viele Jahre zur Elektrostimulation – die meiste Zeit davon mit Querschnittsgelähmten.
"Die Grundidee ist, dass man die gelähmten Muskeln künstlich aktivieren kann und dass man eben Elektroden auf die Beine klebt und mit kleinen elektrischen Impulsen die Nerven reizt, die die Muskeln dann versorgen. Und das führt dann zur Muskelkontraktion. Und wenn man das im richtigen Rhythmus ein- und ausschaltet, dann kann man sinnvolle Bewegungen erzeugen."

Erste Versuche in der Badewanne

Die Idee mit dem Wasser kam von einem früheren Probanden, trotz Querschnittslähmung ein passionierter Taucher. Fortbewegen konnte er sich im Wasser freilich nur mit den Händen – doch mit dem Zappeln der Hände verscheuchte er die Fische, die er eigentlich aus der Nähe sehen wollte. Ob man da mit den Beinen nicht auch etwas machen könne, fragte er das Forscherteam. Der erste Versuch lief in der heimischen Badewanne ab.
"Viele Patienten lieben Wasser. Die fühlen sich dort frei, sie können sich gefühlt eigenständig bewegen. Und ich glaube, das ist auch psychologisch ziemlich wichtig, dass man das Üben in einer Umgebung macht, in der man sich wohl fühlt. Man kann sich auch mit wesentlich weniger Kräften, mit seinen Restaktivitäten viel besser bewegen als an Land."
"Wir sind bisher die einzigen, die ins Wasser gehen. Haben für gut Aufsehen gesorgt bei ein paar Konferenzen, weil alle dachten, das macht im Wasser keinen Sinn, oder das funktioniert gar nicht im Wasser. Wenn ich Strom ins Wasser mache, dann habe ich sofort einen Kurzschluss. Das haben wir widerlegt, das funktioniert. Aber bisher gibt es keine Gruppe, oder wir kennen die Ergebnisse bisher nicht von anderen Gruppen, die ins Wasser gehen. Ist schon unser Alleinstellungsmerkmal."

Jeder Patient reagiert anders

Bei einer Querschnittslähmung sind die Nervenbahnen im Rückenmark durchtrennt. Es ist wie eine Barriere zwischen dem Gehirn und dem gelähmten Teil des Körpers. Die Elektrostimulation kann helfen, die Barriere zu überwinden: Sie imitiert die Impulse aus dem Gehirn. Ihr großer Vorteil gegenüber anderen Therapien wie zum Beispiel Implantaten: Sie ist nicht-invasiv, kommt also ohne Operation aus.
Natürlich ist die Anwendung viel komplexer als ein simples "Strom an / Strom aus". Viele Parameter spielen zusammen – Position der Elektroden, Intensität und Frequenz der Impulse. Jeder Patient reagiert anders. Und selbst wenn alles stimmt, können nur einige wenige Muskeln erreicht werden. Der Bewegungsapparat des Menschen ist einfach ungemein komplex. Das Ziel ist trotzdem eines Tages: Automatisierung.
"Ein Regelungstechniker regelt sowohl Autos als auch Kernkraftwerke oder Flugzeuge. Und wie in unserem Fall eben auch medizinische Systeme. Wir versuchen immer, die Anwendung zu verstehen und zu übersetzen in eine universelle Sprache. Das sind meist mathematische Modelle, die erstaunlich gleich sind, ob das jetzt ein Muskel ist, den man stimuliert, oder eine Heizungsanlage im Haus.
Man muss sich einarbeiten, aber wir arbeiten uns ja nicht in die komplette Medizin ein. Man muss verstehen, wie ein Nerv aktiviert wird und wie der Zusammenhang ist zwischen der Stromstärke und der Pulsbreite und der Frequenz und der Kraft, die generiert wird."

Riesige Erwartungen an die Forschung

Thomas Scheuer und Constantin Wiesener bewegen sich auf einem schmalen Grat. Denn bei vielen Querschnittsgelähmten ist nichts größer als die Hoffnung, eines Tages wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Die Erwartungen an die Forschung sind riesig.
"Wir müssen klar sagen, wir versprechen ihnen keine Heilung. Das machen wir ganz klar am Anfang, dass es ein offenes Ergebnis hat, diese ganze Studie. Und dass wir da nichts herbeizaubern können, sondern schauen, was wir machen können im Rahmen der Studie. Und dass das für uns ganz viel Neuland ist. Wir sind da auch mit uns ehrlich, was wir schaffen können und was wir nicht schaffen können, das sehen wir schon."
"In anderen Studien war auch sechs Monate tägliches Training erforderlich, damit man etwas besser läuft als vorher. Und als vor 20 Jahren in Berlin die Gangrobotik hochkam – das war alles für Schlaganfall optimiert zwar, aber da hat man gesagt: Man kann einen Schlafanfallpatienten, der nicht gehfähig ist, jetzt nicht in so einen Roboter stecken. Heutzutage ist das etablierte Therapie. Man muss auch mal etwas wagen und probieren und gucken, ob Erfolge kommen, die jetzt nicht vorhersehbar sind."

Nicht alle U-Bahnhöfe sind barrierefrei

Ein anderer Tag, Berlin-Potsdamer Platz. Es ist windig, Autokolonnen schieben sich vorbei an Neubauten aus Glas und Beton. Die Tür eines dieser Gebäude öffnet sich, Krisztina kommt in ihrem Rollstuhl heraus. Sie trägt das Haar offen und eine feine bunte Bluse – ihr Arbeitsoutfit.
"Ich bin Softwaretesterin. Damit habe ich ganz großes Glück, weil man das auch beim Sitzen machen kann. Und die Chefin und mein Chef auch sehr flexibel sind. Ich habe auch vor der Lähmung hier gearbeitet und habe ungefähr ein Jahr Pause gehabt, und ich konnte einfach zurückkommen und weiterarbeiten."
Krisztina und ich haben uns verabredet. Ich will wissen, wie es für sie ist, in Berlin mit dem Rollstuhl unterwegs zu sein.
"Mit der neuen Bahn brauche ich keine Hilfe, bei den älteren schon. Aber da helfen mir die Fahrer immer, mit der Rampe oder ohne Rampe. Einmal habe ich einen kleinen Unfall gehabt, die Fahrerin hat es nicht geschafft ohne Rampe. Und ich bin zwischen der Bahn und der Bahnsteigkante gelandet. Alle waren so schockiert."
Die meisten U-Bahnhöfe sind mittlerweile barrierefrei, aber eben nicht alle. Manchmal muss Krisztina eine Station früher aussteigen und den Rest der Strecke im Rollstuhl fahren.

Rollschuhtanz und Bogenschießen

"Früher habe ich trainiert. Vor der Lähmung war ich fast jeden zweiten Tag im Fitnesszentrum. Und ich habe es nie geschafft, Muskeln auf die Arme aufzubauen. Aber jetzt sieht es schon besser aus."
Die Bahn fährt ein. Es ist ein alter Waggon mit einer Stufe zwischen Eingang und Bahnsteigkante. Der Fahrer steigt aus und legt eine Metallrampe darüber. Krisztina lebt seit vier Jahren in Berlin. Deutsch hat sie schon in der Schule gelernt, später ein Jahr in Österreich gelebt.
Krisztina ist sehr aktiv, trotz Querschnittslähmung. Sie trifft sich mit Freunden, geht zum Rollstuhltanz, zur Bewegungstherapie, zum Bogenschießen. Sogar einen Fallschirmsprung hat sie schon gemacht.
"Manchmal denke ich, es lohnt sich trotzdem zu leben. Und die Freunde, die mich kennen, sagen immer, Wahnsinn, dass ich trotz dem Rollstuhl immer lache und froh bin und Sachen unternehme. Und da bin ich aktiver als andere, die richtig laufen können. Und das sind viele Sachen, die Spaß machen. Aber wenn man auf die andere Seite schaut, was man verloren hat, ist das auch sehr viel."

"Eine Reise für uns alle"

Für Krisztina ist die Teilnahme am Forschungsprojekt ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht bringt es sie ein Stück weiter in ihrem Traum: Endlich wieder so sein wie früher. Endlich wieder laufen lernen.
"Das ist in meinem Kopf nicht so, dass sie Wissenschaftler sind und ich für sie eine Arbeit bin. Und ich sage nicht, dass wir Freunde sind, weil wir über private Sachen nicht so viel quatschen, aber trotzdem, dieses Ganze erleben wir zusammen. Und die sind neben mir, wenn ich diese Erlebnisse habe. Und natürlich, das verbindet uns. Ich glaube, für sie ist es auch immer neu, was sie an mir sehen, und für mich auch. Und das ist eine Reise für uns alle."
Ein paar Wochen später sehen wir uns wieder. Krisztina hat mich dazu eingeladen, sie beim Bogenschießen zu begleiten. Wir treffen uns vor ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg. Vor Kurzem hat sie ihr neues Auto bekommen.

Autofahren bedeutet Freiheit

"Das finde ich komisch, wenn die Leute schauen beim Einsteigen. `Sie wird fahren, mit dem Rollstuhl?´ Manchmal bemerke ich die komischen Blicke. Als ich gesund war, hatte ich auch ein Auto. Aber da hat es nicht so Spaß gemacht wie jetzt. Da war ich ohne Auto auch mobil, nur war ich dann einfach schneller. Jetzt gibt es mir wirklich Freiheit."
Durch zähen Nachmittagsverkehr fahren wir durch den Ostteil der Stadt, nach Lichtenberg. Einmal pro Woche kommt Krisztina hierher zum Bogenschießen. Den Sport hat sie schon vor ihrer Lähmung gemacht. Vor ein paar Wochen hat sie nun wieder damit angefangen.

Eine junge Frau im Rollstuhl mit Pfeil und Bogen.
Schon vor der Lähmung war Krisztina Bogenschützin.© privat

In der Halle leuchtet gelbes Kunstlicht, in der Mitte drei Zielschieben. Alex, der Trainer, spannt Krisztina mit einem Gurt am Rollstuhl fest und drückt ihr einen großen Sportbogen in die Hand. Krisztina wirkt fahrig und ein bisschen nervös – vielleicht ist es der Vorführeffekt. Nach einer halben Stunde lässt die Kraft nach.
"Das hat Spaß gemacht, das genieße ich immer. Von einer Seite das ist sehr schön und gut. Aber von der anderen Seite ist es auch schwierig, dass man so realisiert und wirklich sieht, ja, das kann ich auch schon nicht mehr."

Eineinhalb Jahre starke Rückenschmerzen

Zurück im Prenzlauer Berg. Krisztina erzählt von jenen Wochen vor zwei Jahren, als alles begann.
"Bevor ich gelähmt wurde, habe ich eineinhalb Jahre starke Rückenschmerzen gehabt. Und ich bin auch von Arzt zu Arzt gegangen, man hat immer gesagt, dass ich Blockade habe und hat manuelle Therapie aufgeschrieben oder verordnet, was eigentlich Massage bedeutet."
An einem Mittwoch im März schleppt sie sich zu ihrem Hausarzt. Der schickt sie wieder nach Hause. Sie müsse lernen, mit den Schmerzen zu leben, so zitiert Krisztina den Arzt heute. Vier Tage später kann Krisztina kaum noch stehen. Beim Zähneputzen bricht sie zusammen. Die Beine tragen sie nicht mehr. Im Krankenhaus wird ein Tumor diagnostiziert. Die Nervenbahnen sind durchtrennt, es ist zu spät. Krisztina denkt noch oft an diese Woche.
"Und an den Arzt auch. Er war wirklich so unfreundlich. Er hat gesagt: Ja, das ist nichts Gefährliches. Ich habe geweint und er hat mich überhaupt nicht berührt, hat mich überhaupt nicht untersucht und hat nichts gemacht. Ich vermute, dass er gedacht hat: Ja, junges Mädchen, sie weint hier, weil sie mit den Schmerzen nicht umgehen kann. Dann kann ich auch nichts mehr machen. Das ist schlimm, dass man nicht wahrgenommen war…"

Krisztina klagt gegen ihren Arzt

Was wäre gewesen, wenn der Arzt besser reagiert hätte? Hätte sich alles abwenden lassen? Solche Fragen stellt sich Krisztina dauernd. Den Arzt von damals hat sie verklagt, der Ausgang ist noch offen. Aber wird das etwas helfen?
Und wird sie jemals wieder auf ihren eigenen Beinen stehen können?
"Die Vorstellung und der Optimismus ist: Das kann einmal kommen. Aber ohne Hoffnung könnte das auch nicht funktionieren. Ich berücksichtige mein derzeitiges Leben nicht so, dass es so bleiben wird. Sondern das ist so ein Zustand, und ich soll damit klarkommen, aber das wird sich ändern. Das behandle ich im Kopf immer als temporäre Sache. Und damit kann man besser leben."
Krisztinas Strohhalm – das ist die Forschung.
Ein weiterer Trainingstermin im Schwimmbad in Berlin-Mitte. Acht Wochen arbeiten Thomas Schauer und Constantin Wiesener von der TU Berlin jetzt schon mit Krisztina als Probandin.
In der Umkleidekabine erzählt Thomas von zwei Konferenzen in Halle und Wien. Vor Therapeuten, Medizintechnikern, Neurologen hat er das Forschungsprojekt vorgestellt.

Anfeuern hilft

"Elektrostimulation im Wasser ist immer noch etwas total Ungewöhnliches, und das finden auch alle total abgefahren und verrückt, aber auch total interessant und spannend. Und wir haben jetzt die Videos gezeigt, wo Krisztina durch den Pool sich eigenständig bewegt und geht. Und dann kam eben als Erstes das Feedback: Naja, Gangtraining würde ich das jetzt nicht nennen. Beim Gehen müsste die Hüfte mehr gestreckt sein, der Kopf muss rausgucken. Aber dass die Bewegung so wiedervorstellbar waren, das hat alle begeistert."
Wenig später im Schwimmbad. Krisztina sitzt auf der Patientenliege, der Oberkörper verkabelt, vom Bauchnabel abwärts im Wasser. Das Training beginnt.
"So. Ohne Stimulation. Fangen wir wieder links an. Sehr schöne Streckung. Gute Hebung. Beugen jetzt mal links. Okay, das ist noch etwas schwach. Und noch einmal mit den Zehen wackeln, winken. Dann das gleiche nochmal mit der rechten Seite. Du kannst dir ja vorstellen, dass du die linke Seite beugst und die Rechte streckst. Okay. Also rechts ist leider noch nichts zu sehen."
Dann dieselbe Übung. Doch diesmal ist das kleine Gerät, das die Stromstöße gibt, eingeschaltet.
"Mit Stimulation ist der Bewegungsumfang gleich viel größer. Sie sitzt jetzt im Wasser auf einer Liege und kann das Bein quasi rausheben über die Hüftbeugung. Und das geht ohne Stimulation gar nicht. Und auch Kniebeugen und Kniestrecken ist wesentlich stärker. Das hilft natürlich beim Gehen jetzt gleich unwahrscheinlich viel."
Jetzt geht es ins Wasser zum Gangtraining. Wieder hat Krisztina Schwimmnudeln unter den Armen, wieder setzt sie langsam das linke Bein vor das Rechte. Von ihren Kollegen auf den Konferenzen haben Thomas und Constantin gelernt: Anfeuern kann helfen.
"Ich halte den Fuß unten fest, und jetzt stell' dich drauf. Stell dich richtig drauf. Und denk an Strecken. Strecken, strecken, strecken. Und abstellen. Strecken und abstellen. Abstellen und strecken. Richtig. Okay. Merkst du das Gefühl, also wenn ich dich runterziehe, dass es mehr Gewicht wird?"
"Also wenn ich schon stehe, dann spüre ich, dass ich stehe. Aber ob weniger oder mehr Gewicht, das merke ich dann schon nicht mehr, also den Unterschied."

Krisztina läuft jetzt alleine durchs Wasser

Der Erfolg der Anwendung ist auch tagesformabhängig. Das erschwert die Einschätzung: Sind die Einstellungen richtig? Helfen die Impulse – oder nicht?
"Und war es leichter mit Stimulation? Hattest du das Gefühl, dass du weniger mit den Armen machen musstest?"
"Ich habe keinen Unterschied gespürt."
"Wenn du dein Gesicht siehst und deine Muskeln, Armanspannung, dann ist es ein Unterschied gewesen zu vorher. Aber wir schalten nochmal ein und schauen, ob es dann wieder so leicht ist wie vorher. Stimulation wieder eingeschaltet mit 10 Hertz."
"Ja, jetzt gibt es einen Unterschied. Jetzt ist es leichter."

Ein Mann führt eine junge Frau durch hüfthohes Wasser.
Der Forscher und die Probandin: Constantin Wiesener mit Krisztina.© Thomas Schauer, Technische Universität Berlin

Zehn Bahnen à sieben Meter schafft Krisztina heute. Ihr Rekord liegt bei 15. Doch beeindruckend ist der Erfolg allemal: Dank Elektroimpulsen kann Krisztina jetzt auch alleine durchs Wasser laufen. Die Forscher unterstützen sie nur bei Richtung und Balance. Und dann ist die 16. Trainingsstunde vorbei. Es ist die letzte Anwendung dieser Art.
"Es ist schon ein bisschen traurig. Wenn man sich acht Wochen lang zwei Mal die Woche sieht und zusammen abends am Pool trainiert, dann entsteht schon sowas wie persönliches Verhältnis, Freundschaft. Und es ist ein bisschen traurig, dass man das nicht weiter anbieten kann."

Die Therapie weckt Hoffnungen

Doch Thomas Schauer und sein Kollege müssen auch realistisch bleiben: Zwei Anwendungen pro Woche, acht Wochen lang, das könnte später in einer Reha angeboten werden oder beim Aquafitness. So könnte aus der "Spielwiese", wie Thomas sein Forschungsprojekt nennt, ein ganz normales Training für querschnittsgelähmte Patienten werden.
Das alles weckt große Hoffnungen bei den Probanden. Kommt er damit zurecht?
"Ja, weil wir eben auch eine Langzeitvision haben. Unser Ziel ist schon so eine Technologie auch langfristig verfügbar zu machen. Wir entwickeln nicht für die Schublade. Und insofern weiß auch jeder Proband in einer Studie, dass er dazu beiträgt, dass so etwas später einmal verfügbar ist und dass es diese Phase geben muss. Und dass die Entwicklung von Medizinprodukten keine Sache ist, die man in einem Jahr absolviert, sondern das dauert einige Jahre. Vielleicht fünf Jahre. Aber ohne diese Pilotphase hier würde das Ganze gar nicht in Gange kommen. Insofern sind wir traurig, dass wir nicht weiter unterstützen können, aber andererseits auch dankbar und froh, dass Patienten eben auch mithelfen."
Wie lange werden die Effekte des Trainings in Krisztinas Körper erhalten bleiben? Ist das Training im Wasser wirklich effizienter als andere Therapien? War das Laufen im Wasser eine einmalige Sache für Krisztina – oder lässt es sich wiederholen? Das Forschungsprojekt endet mit fast so vielen Fragen, wie es begonnen hat. Antworten könnten nur Langzeitstudien liefern.

Medizinforschung dauert viele Jahre

Einige Monate später. Deutschland ist mitten in der Coronakrise. Die Technische Universität ist wie alle anderen Bildungseinrichtungen geschlossen, Thomas Schauer und Constantin Wiesener sitzen im Homeoffice. Unser Interview findet als Videokonferenz statt. Zu meiner Überraschung stelle ich fest: Die beiden Forscher haben Krisztina einen Stromstimulator für Zuhause mitgegeben. Geht die Untersuchung also weiter?
"Im Grunde war es ein Angebot an Krisztina, weil für uns ist die Studie zu Ende, und wir können mit den Daten jetzt auch offiziell nichts anfangen. Wir sind interessiert: Wie geht's ihr, was ist aus ihr geworden? Aber es war jetzt nur ein Vermittlungsversuch."
"Das ist leider oft so ein bisschen das Dilemma bei solchen Studien, dass man das die Patienten im Training hat und man hat Erfolge, und die finden es auch gut und würden es auch weitermachen. Und sie würden gerne in einen Regelbetrieb kommen. Und dann muss man leider am Ende sagen: Das können wir nicht leisten, wir sind nicht eine Physiotherapiepraxis.
Und das ist natürlich immer extrem bitter, weil klar, man baut natürlich auch eine Bindung auf zu den Patienten und denkt auch: Klar, der hat jetzt einen guten Status erreicht, der hat Erfolge erzielt, jetzt wäre es total sinnvoll, dass er daran anknüpft und irgendwie weitermacht daran. Deswegen haben wir den Schritt gemacht: Wir probieren jetzt noch irgendetwas zu realisieren in Absprache mit dem Arzt, was sie vielleicht zu Hause anwenden kann, wo sie zu Hause anknüpfen kann und schauen kann, ob sie da weiter trainieren kann."
Patienten von heute helfen Patienten von morgen – so steht es in einem Memorandum, das Probanden am Anfang von Forschungsprojekten unterschreiben. Grundlagenforschung, klinische Tests, Entwicklung und Zulassung – Medizinforschung kann viele Jahre dauern.
Anruf bei Krisztina. Wie denkt sie heute über das Forschungsprojekt?
"Jetzt zum Beispiel mit der Quarantäne und dem Homeoffice habe ich auch mehr Zeit, zu Hause richtig zu trainieren. Und das ist schwierig zu erfahren, dass ich das mache und Zeit und Energie investiere, und trotzdem kommen keine solche Fortschritte, die ich erwarten würde. Dass die Muskulatur nicht vollständig abgebaut wird, ist schon ein großer Fortschritt, aber natürlich habe ich größere Erwartungen. Und manchmal bin ich auch enttäuscht, wenn ich auf meine Beine schaue und so. Aber grundsätzlich an den besseren Tagen definitiv finde ich es so, dass die Forschung für mich gutgetan hat."
Ob Krisztina eines Tages wieder laufen lernt, das kann heute keiner so richtig sagen. Für den Moment bleibt es ein Traum. Ein Traum aber, der immerhin Zuversicht schenkt.

Die Reportage wurde erstmals am 07.06.2020 gesendet.

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