Einwanderungspolitik als "Gleichgewichtskunst"

Rezensiert von Josef Schmid · 30.11.2008
Mit der Integration von Einwanderern tun sich die europäischen Länder nach wie vor schwer. Für den holländischen Soziologen Paul Scheffer haben die Staaten die erforderliche Balance in der Einwanderungspolitik noch nicht gefunden. In seinem Buch "Die Eingewanderten" umreißt Scheffer das Spannungsfeld, in dem sich Integration vollziehen muss.
Das Werk des holländischen Soziologen Scheffer mischt gründlich Argumentation, Aussagen von Experten und anschauliches Beispiel. Wer nur bissige Reden gegen die multikulturelle Gesellschaft erwartet, wird angenehm enttäuscht. Der Autor sieht die europäischen Staaten als Einwanderungsländer, die ihren Modus, es wirklich zu sein, noch nicht gefunden haben. Mit großer Präzision in neun Themenfeldern beschreibt er, wie Einwanderungsländer ständig ihre nationale Identität auf den Prüfstand stellen müssen und welche Teile davon den Neubürgern unabdingbar zu übertragen sind. Drei Problembereiche scheinen ihm zentral: die Form der Toleranz, die Einwanderung in einen Versorgungsstaat und die heikle Rolle der Kultur angesichts eines Menschenrechts- und Gleichheitsideals.

Menschen aufnehmen, recht und schlecht einer Arbeit zuführen, den Versorgungsstaat in ihre Richtung lenken und mit fadenscheiniger Toleranz sie ihren eigenen Netzwerken überlassen – das hat sich – von Nuancen abgesehen – überall eingeschlichen. Integration ist auch kein Abhaken eines Maßnahmenkatalogs, sondern die mit jeder Einwanderung anstehende Wiederherstellung eines kulturellen Gleichgewichts, eines solidarischen "Wir".

Eine erste Erkenntnis lautet: Der Einwanderer ist froh, in einer westlichen Wohlstandsgesellschaft gelandet zu sein, hat aber keine Vorstellung davon, wie sie durch die Arbeit von Generationen hier zustande kam:

"Trotzdem haben viele Migranten vor allem den Wohlstand vor Augen… Sie wollen sich wirtschaftlich verbessern, erfahren aber die Normen der liberalen Gesellschaft als eine Entwertung all dessen, was ihnen am Herzen liegt. Die Freiheiten der aufnehmenden Länder werden nicht freudig begrüßt, sie werden eher als eine Bedrohung erfahren."

Darum tun sich Einwanderer zusammen und führen ihr Leben, das sie von zuhause gewohnt sind, erst einmal hier fort. Ein zweiter Grund liegt am westlichen Wohlfahrts- und Versorgungsstaat, der mit gewisser Automatik und autoritärer Barmherzigkeit auf die Einwanderer aus fremden Welten hernieder fährt und unerwünschte Zustände stützt. Das sind ethnische Enklaven, Sonderquartiere, in denen eigene Gesetze gelten. So entsteht jene multikulturelle Gesellschaft, die – wie sich herausstellt – auch den Ordnungsvorstellungen einer liberalen offenen Gesellschaft zuwiderläuft. Denn sie ist nach wie vor auf Arbeitsteilung und Loyalität angewiesen und sieht in den aufkeimenden Parallelgesellschaften bald ein Integrationshindernis. Auch für die Einwanderer, besonders der zweiten Generation, wird die ethnische Enklave, die Diaspora, zur Integrationsfalle, die sie im Existenzkampf und am Arbeitsmarkt moderner westlicher Gesellschaften scheitern lässt.

"… tatsächlich hat sich die subventionierte Isolation der vielen Migrantenfamilien als großes Hindernis für sie selbst, für ihre Kinder und für die gesamte Gesellschaft erwiesen. Der unternehmerische Elan all jener, die Haus und Herd verlassen haben, um anderswo Geld zu verdienen, wurde von einer Gesellschaft erstickt, die Menschen gegen alle möglichen Risiken absichern will."

Einwanderungspolitik wird vom Autor als sensible Balance, als eine "Gleichgewichtskunst" gesehen. Auf diesem Wege lauern aber Barrieren, über die allzu bequem hinweg gesehen wird. Die Idee, auf dem Boden einer Einwanderungsgesellschaft von den menschlichen Besonderheiten abzusehen, um auf ihm eine universelle, kosmopolitische Menschenrechtsrepublik zu errichten, wird am Organisationsgrad der Zuwanderergruppen scheitern. Es ist die Idee der Gleichheit aller, der gleichen Rechte, der fortgeschafften Hindernisse, damit alles, was Menschenantlitz trägt, sich verbrüdere. Dieser Griff in den republikanischen Heroismus der Französischen Revolution gilt weithin als der Problemlöser. Dabei wollen Einwanderer und ebenso Einheimische die Anerkennung ihrer Vergangenheit und Gegenwart:

"Die Misere dieser vielen Migranten stellt das Gleichheitskonzept des republikanischen Staates auf eine ernste Probe … Das republikanische Gleichheitsideal will ja nichts von ethnischen Minderheiten oder Subkulturen wissen …(Sie) anzuerkennen verträgt sich aus dieser Perspektive nicht mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Individuen ohne Ansehen ihrer Religion, Hautfarbe oder Klasse."

Der Intellekt und die politische Klasse liebäugeln mit Gleichheit und Menschenrecht als Bindemittel für Einwanderungsländer, weil so die Problempunkte ausgespart bleiben, die das Leben und Zusammenleben ausmacht. Nun rebellieren die unterdrückten menschlichen Attribute wie Kultur, Religion, Erbschaft, Herkunft, Schicksal.

Man denke nur an das Gezeter vor wenigen Jahren um das Wort "Leitkultur": Es steht exemplarisch für den Eifer des politischen Establishments, sich blind an diesem Kahlschlag in weltbürgerlicher Absicht zu beteiligen. Dagegen Scheffer:

"Wir müssen auch lernen, die Gesellschaft als einen 'Generationenvertrag' zu sehen. Neuankömmlinge …treffen auf eine Gesellschaft, die das Produkt der Anstrengungen jener ist, die uns vorausgingen. Jede neue Generation ist dadurch aufgerufen, das Erbe anzutreten."

Der erfahrene Autor lässt keinen Zweifel, dass die liberale Utopie von friedlichen internationalen Verhältnissen durch nationale und ethnische Konflikte zerstört werden könne:

"Das heutige Ringen mit der Immigration kann man nur vor dem Hintergrund dieser Spannungen verstehen. Wir sind auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht."

Doch es sind mehrere Gleichgewichte, die da ins Lot gebracht werden müssen: zwischen der Anerkennung von Grenzen und Grenzüberschreitung, von Kenntnis der eigenen Kultur und Interesse an Fremdkulturen, von Religion und Religionskritik, von kulturellem Erbe und Weltoffenheit, von Prinzipientreue und Toleranz. Integration vollzieht und bewährt sich in diesem Spannungsfeld.

Paul Scheffer: Die Eingewanderten - Toleranz in einer grenzenlosen Welt
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, Andreas Ecke, Heike Baryga und Gerd Busse
Carl Hanser Verlag, München/ 2008
Paul Scheffer: Die Eingewanderten
Paul Scheffer: Die Eingewanderten© Carl Hanser Verlag
Mehr zum Thema