Einwanderer in Luxemburg

"Ich kann alles verändern, aber am Ende bleibe ich Portugiese"

25:47 Minuten
Ein Tisch voller alter Fotos und Erinnerungen.
Erinnerungen an ein Leben als Migrant: die Fotos der Familie Moutinho. © Marc Bädorf
Von Marc Bädorf  · 12.08.2020
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Fast jeder Fünfte in Luxemburg hat einen portugiesischen Migrationshintergrund. In keinem Staat der Welt haben Einwanderer aus einem Land einen höheren Anteil. Doch auch die dritte Generation kämpft noch mit Vorurteilen und schlechteren Chancen.
Lucca Moutinho will vielleicht zur Armee gehen, doch nicht zur Luxemburger. Sterben, wenn es denn sein müsste, sagt der 16-Jährige, würde er nur für Portugal. Er hat dunkle Haare, ein schmales Gesicht, trägt ein graues Sweatshirt und sitzt mit seiner Familie um den Tisch.
Es ist ein Maitag in Consdorf, einem 2000-Einwohner-Dorf in Luxemburg, keine zehn Kilometer entfernt von der deutschen Grenze. Auf dem Tisch stehen Teller mit Würstchen und Hähnchenspießen, Schüsseln mit Kartoffelgratin, Plastiktüten mit Brot, Flaschen mit Saft.

Geboren im Norden Portugals

Auf der linken Seite des Tisches sitzt Lucca Moutinhos Großvater, ein älterer Mann mit schütterem Haar. Er trägt ein kariertes Hemd und ein Lächeln, das erkennen lässt, was dieser Mann als Junge gewesen ist: ein Schlawiner. Er stellt sich als Antonio Moutinho vor. "Ich bin im Norden Portugals geboren, in einem Dorf gleich an der spanischen Grenze."
Die Moutinhos treffen sich regelmäßig. Sie sprechen miteinander Portugiesisch, manchmal aber auch Französisch, Luxemburgisch, Deutsch - die drei Landessprachen des Großherzogtums, das eingequetscht zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien liegt.

Außerdem in dieser Ausgabe der Weltzeit: Luxemburg ist das einzige Nachbarland Deutschlands, das vom Robert-Koch-Institut als Covid-19-Risikogebiet eingestuft ist. Was hinter den hohen Fallzahlen steht und warum sich viele Luxemburger als Opfer ihrer eigenen Corona-Teststrategie sehen, erklärt unsere Korrespondentin Tonia Koch. Weitere internationale Reportagen finden Sie in unserem Weltzeit-Podcast - jetzt abonnieren, überall wo es Podcasts gibt.

Sie erzählen sich Geschichten von Träumen und Zielen, von Problemen und Reisen. Gemeinsam ergeben sie: eine Familiengeschichte. Doch nicht nur: Die Familiengeschichte der Moutinhos ist auch eine Geschichte der Portugiesen in Luxemburg.

"Man war die ganze Zeit eingesperrt"

Es beginnt in den 60er-Jahren. Seit 30 Jahren hat der Diktator Antonio de Oliveira Salazar Portugal im Griff. 1928 ist er als Finanzminister in die Regierung gekommen, seitdem hat er seine Macht kontinuierlich ausgebaut und aus Portugal einen repressiven Polizeistaat gemacht.
Antonio Moutinho erzählt: "Das System war sehr streng. Man war eigentlich die ganze Zeit eingesperrt. Es gab keine Freiheit."
Salazars Geheimpolizei PIDE hat Spitzel im ganzen Land und in allen Schichten. Der Lehrer, der Pfarrer, der Apotheker, der Fußballtrainer – Antonio Moutinho wächst mit dem Wissen auf, dass er niemandem vertrauen darf.

Luxemburg lockte mit Arbeitsplätzen

Während in diesen Jahren aus Portugal tausende Menschen fliehen, hat Luxemburg ein ganz anderes Problem, erklärt der Historiker Thierry Hinger:
"Da ist in Luxemburg Ende der 60er-Jahre ein Mangel an Arbeitskräften entstanden. Zuerst kam die Anfrage aus dem Ministerium für Landwirtschaft, dass ein Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft bestünde. Und generell auch auf dem Bau. Und da stellte man sich als Regierung die Frage: Wo wollen wir als Regierung unsere Arbeitskräfte herbeiziehen?"
Ein wichtiges Kriterium für das Großherzogtum: die Religion. Hinger sagt: "Man bevorzugte Länder zur Anwerbung, die katholisch waren, weil man der Meinung war, die wären leichter integrierbar, weil es dann keine religiösen Differenzen zwischen den Einwanderern und den Inländern geben würde. Da fiel die Entscheidung auf Portugal."

Viele wollten nach Frankreich oder Deutschland

Doch schon lange, bevor sich Luxemburg offiziell um Arbeitskräfte aus Portugal bemüht, hätten die ersten den Weg ins Land gefunden, sagt der Historiker: "Es gibt einen Mythos, der in den 70er-Jahren zirkulierte: Dass ein portugiesischer Migrant auf dem Weg nach Longueville, also in den Südosten von Frankreich, nach Metz eingeschlafen sei und vergessen habe auszusteigen und so nach Luxemburg gekommen ist. Das ist natürlich ein Mythos, der nicht als historische Tatsache zu verbuchen ist."
Der Ursprung dieses Mythos ist leicht zu erklären: Viele Portugiesen wollten nach Frankreich oder Deutschland. Wenn sie in Luxemburg landeten, war das oft ein Zufall.

Zu zehnt in der Kellerwohnung

Anders ist es für Antonio Moutinho: Freunde aus seinem Dorf, die schon in Luxemburg sind, locken ihn ins Land. 16 Jahre ist Moutinho, als er zu fliehen beschließt, als er mit einem Zug erst die spanische und dann die französische Grenze überquert. Der Anfang in Luxemburg ist hart, die erste Woche schläft Moutinho in einer Bushaltestelle, auch danach wird es zunächst nicht viel besser.
Antonio Moutinho erinnert sich: "Es war kein Problem, Arbeit zu finden. Aber Luxemburg war ja damals noch wie ein großes Dorf. Es gab kaum Unterkünfte. Ein portugiesischer Bekannter hat mir dann irgendwann eine Wohnung besorgt, in einem Keller. Da haben wir zu zehnt drin gewohnt. Zum Kochen hatten wir eine kleine Ecke."

Mehr als 120.000 Portugiesen im Land

Antonio Moutinho gehört Ende der 60er wahrscheinlich zu den ersten 1000 Portugiesen in Luxemburg. Heute leben 120.000 Portugiesen im Großherzogtum – bei einer Gesamtbevölkerung von nur 580.000 Menschen. Jeder Fünfte ist also portugiesischer Einwanderer. In keinem anderen Land hat eine ausländische Nationalität einen höheren Bevölkerungsanteil.
Doch wie funktioniert die Integration der Portugiesen in Luxemburg? Ist sie erfolgreich? Oder scheitert sie?

"Überall hörte ich Portugiesisch"

Düdelingen, eine 20.000-Einwohner-Stadt, gelegen im Süden des Landes an der Grenze zu Frankreich, ist eine Industriestadt. Über die Gleise rattert ein Güterzug nach dem anderen. Neben den Gleisen: ein gelbes Gebäude, der ehemalige Bahnhof. Heute ist der Bahnhof ein Zentrum für Migrationsforschung.
Heidi Martins – 42 Jahre alt, schulterlange, schwarze Haare – führt durch die kleine Ausstellung des Zentrums. Sie forscht zur Situation der Einwanderer aus Portugal in Luxemburg. Damit ist sie eine seltene Erscheinung in der Forschungslandschaft des Kleinstaates, in dem sich nur sehr wenige Wissenschaftler mit der portugiesischen Einwanderung beschäftigen.
Heidi Martins ist als Tochter portugiesischer Einwanderer in der Schweiz geboren. Als sie elf Jahre alt ist, kehren ihre Eltern nach Portugal zurück. Martins geht in Portugal zur Schule, studiert in Braga – bis Erasmus sie nach Luxemburg bringt. Sie erinnert sich:
"Ich hatte keine Ahnung von der portugiesischen Community in Luxemburg. Ich wusste nichts über das Land. In den ersten Minuten, als ich ankam, hörte ich plötzlich überall Portugiesisch. Zuerst dachte ich: Das sind Leute aus dem Flugzeug, die kommen mit mir aus Portugal, das ist normal. Aber dann habe ich den Bus genommen und bin herumgefahren. Überall hörte ich Portugiesisch. Ich dachte mir: Wie kann das sein? Und da habe ich angefangen mich zu fragen: Was ist das genau mit diesen portugiesischen Communitys?"

Lehrer unterschätzen portugiesische Schüler

In ihrer Doktorarbeit setzt sich Martins zum ersten Mal ausführlich mit portugiesischen Einwanderern in Luxemburg auseinander. Sie interviewt 25 portugiesische Einwanderer, dabei stellt sie fest: Die, die Probleme haben, hatten diese meistens schon in der Schule. Was Heidi Martins Meinung nach oft an den Lehrern liegt.
Es gehe oft um deren Erwartungshaltung. "Das ist ein ziemlich großes Problem. Die niedrigen Erwartungen, die Lehrer an Schüler mit portugiesischen Migrationshintergrund haben, ist für diese Schüler natürlich ziemlich demotivierend und entmutigend. In Luxemburg gibt es zwei Schulzweige: einen technischen und einen sprachlichen, der eher als elitär angesehen wird. Eine Studie der Uni Luxemburg zeigt, dass Lehrer Schüler mit portugiesischem Migrationshintergrund viel stärker auf den technischen Zweig schicken – wegen Vorurteilen. Das heißt, dass sie luxemburgische Schüler über- und portugiesische Schüler unterschätzen."
Martins berichtet von Lehrern, die vor Beginn des Schuljahres ihre Klassenlisten auf portugiesische Namen prüfen und sich beklagen, wenn es zu viele sind.

Benachteiligung ein Leben lang

Viele Portugiesen begleiten diese Vorurteile ein Leben lang. Das hat Folgen: Überproportional viele Portugiesen brechen in Luxemburg die Schule ab oder sitzen im Gefängnis, 28 Prozent der Gefängnisinsassen in Luxemburg stammen aus Portugal. Um Vorurteile zu umgehen, gehen manche Portugiesen sogar so weit, ihre Namen zu ändern. Sie wollen nicht mehr auf den ersten Blick als Menschen mit portugiesischen Migrationshintergrund erkannt werden.
"Ich habe Teilnehmer, die waren hier geboren, die waren hier aufgewachsen, die hatten keine Probleme mit der Sprache, die hatten beide Nationalitäten, die hatten ihre Namen verändert. Aber die sagten mir: Am Ende bleibe ich Portugiese. Ich kann alles verändern, aber wenn du mich anschaust, bin ich Portugiese."
Viele Portugiesen in Luxemburg arbeiten in eher schlecht bezahlten Jobs – die Frauen als Reinigungskräfte, die Männer als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Eine aktuelle Studie zeigt, dass mehr als die Hälfte der Reinigungskräfte in Luxemburg aus Portugal stammen. Dagegen hat nicht mal jede 20. Reinigungskraft einen luxemburgischen Pass.

Der Großvater fühlt sich als Luxemburger ...

Wieder in Consdorf. Antonio Moutinho erzählt weiter aus seinem Leben, inzwischen hat er sich einen Rotwein eingeschenkt. Er ist klein, aber auch heute noch drahtig, man sieht ihm ein Leben voller Arbeit an. Angefangen hat er als Hilfsarbeiter in Fabriken und Tellerwäscher in Großküchen. Dann wechselte er zu einem Elektriker, bis zur Pensionierung arbeitet er dort.
Eine ältere Frau hat ein Fotoalbum in der Hand und schaut darauf runter.
Viele Portugiesen in Luxemburg arbeiten in eher schlecht bezahlten Jobs: die Frauen als Reinigungskräfte, die Männer als Hilfsarbeiter auf dem Bau.© Marc Bädorf
Nebenbei eröffnet Moutinho ein Restaurant. Es führt ein Leben voller harter Arbeit. Seine Familie sieht er selten, dazu kommt die Umgebung. Natürlich, sagt Moutinho, habe er immer wieder mit Rassismus zu kämpfen gehabt. Einmal zum Beispiel, als er eine Wohnung gesucht habe, antwortete der Vermieter: Nein, an Portugiesen vermiete er nicht. Doch insgesamt, sagt er, fühle er sich von den Luxemburgern gut aufgenommen, sagt er und fügt hinzu:
"Ich fühle mich in Portugal mehr als Migrant als hier in Luxemburg. Ich bin mehr Luxemburger als Portugiese, ich habe ja in meinem Leben hier viel mehr Zeit verbracht."

... der Enkel als Portugiese

Während sein Großvater erzählt, spielt Lucca Rodrigues Mendes im Garten mit einem Fußball. Normalerweise ist sein Leben extrem eingetaktet: "Montags, mittwochs, freitags und sonntags stehe ich morgens auf. Schule. Komme nach Hause. Esse schnell was. Habe 40 Minuten, um etwas zu essen. Nehme einen Bus und gehe zum Training. Dienstag lasse ich mir eine Pause, donnerstags gehe ich selbst trainieren. Und Samstag lasse ich mir eine Pause. Aber sonst immer dasselbe: Schule, nach Hause, Schule, nach Hause."
Aber jetzt - weil Corona auch Luxemburg weitestgehend lahmgelegt hat und den Fußball sowieso - hat er so viel Zeit wie nie. Er ist in Luxemburg geboren, Portugal sieht er nur in den Ferien, dann, wenn sie ihr Auto packen und zwei volle Tage brauchen um runterfahren.
Mit zwei Monaten ist er zum ersten Mal in Portugal gewesen, doch das erste Mal, dass einer seiner Vorfahren länger als ein paar Wochen am Stück in Portugal gelebt hat, ist schon 50 Jahre her. Als was fühlt er sich? Als Portugiese? Oder als Luxemburger?
Für ihn ist die Antwort klar: "Portugiese. Da fühle ich mich wohler. Luxemburger sind viel kälter, in Portugal bist du bei jedem willkommen. Da kannst du mit jedem reden. Wenn wir genug Geld hätte, würden wir die ersten sein, die nach Portugal gehen würden. Meine Mutter, mein Vater, mein kleiner Bruder auch. Portugal, immer."

Politisch sind Portugiesen kaum repräsentiert

Lucca spricht vier Sprachen, als seine Muttersprache bezeichnet er Luxemburgisch. Er spielt in einer luxemburgischen Fußballmannschaft, hat luxemburgische Freunde. Trotzdem ist er für sich selbst und andere offenbar geblieben, was er nie gewesen ist: Portugiese. Er sagt: "Ich hatte schon einen Kommentar: Du bist Portugiese, in der Schule wirst du nichts reißen können. Du kannst direkt auf die Baustelle gehen. So ein Ding zum Beispiel."
Gleiche Chancen haben Portugiesen in Luxemburg nicht – und politisch sind sie kaum repräsentiert. Zwar sind fast die Hälfte der Menschen in Luxemburg Ausländer, doch wählen dürfen sie nicht. 2017 lehnten die Luxemburger ein Referendum, das Ausländern Wahlrecht gegeben hätte, mit deutlicher Mehrheit ab.
Félix Braz bei einer Pressekonferenz
Der luxemburgische Politiker Félix Braz hat portugiesische Wurzeln.© imago/Anthony Dehez
Einen bekannten Politiker portugiesischer Herkunft gibt es im Land: Félix Braz, der es sogar bis zum Justizminister schaffte. Doch Braz ist eine Ausnahme, das Klischee über Portugiesen ist ein anderes.
Lucca erklärt es: "Es wird viel über die Baustellen geredet. Portugiese hier, Portugiese da. Aber – keine Ahnung – Portugiesen haben nicht viel zu sagen hier in Luxemburg. Sie reden nicht, aber sie arbeiten. Das wird hier nicht anerkannt in Luxemburg."
Er wünscht sich, dass die Menschen in Luxemburg offener wären. Das würde schon viel in Luxemburg ändern. In einigen Jahren wird Lucca sein Abitur machen. Danach hofft er, Fußballprofi zu werden - bevorzugt natürlich bei seinem Lieblingsverein: Benfica Lissabon.
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