Einheit trotz aller Gegensätze

Von Sandra Petersmann · 13.03.2012
Multiethnisch, multisprachlich, multikulturell, multireligiös – Indien, die größte Demokratie der Welt, sucht ihre nationale Einheit im gleichberechtigten Miteinander seiner Vielfalt. Seit der Staatsgründung wurde die Einheit Indiens auf vielfältige Weise auf die Probe gestellt. Bis heute hält die Nation zusammen.
"Großer Herrscher über den Geist des Volkes, heil Dir, Indiens Schicksalslenker",

heißt es in der indischen Nationalhymne. Sie richtet sich an die göttliche Kraft, die das Riesenreich eint.

"Im Punjab, Sindh, in Gujarat … über den Himalaya, den Ganges … über die hohen Wogen des Ozeans, Dein glückverheißender Segen möge erwachen, sie erbitten Deinen glückverheißenden Segen. Sie singen Dein Siegeslied."

Als der große bengalische Dichter Rabindranath Tagore diese Zeilen im Jahr 1911 schrieb, war Indien eine britische Kolonie. König George ließ sich gar zum indischen Kaiser krönen. Tagore, Asiens erster Nobelpreisträger, konnte damals nicht ahnen, was keine vier Jahrzehnte später mit seiner Heimat geschehen würde.

"Wenn die Uhr Mitternacht schlägt und die Welt schläft, wird das freie Indien zum Leben erwachen"

- dieser historische Satz fiel unmittelbar vor der formellen Unabhängigkeit am 15. August 1947.

Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister des unabhängigen Indien, leitete feierlich den Beginn der neuen, demokratischen Zeitrechnung ein – doch die neue Zeitrechnung begann mit einem schrecklichen Blutbad. Indiens Geburt als freie Nation ist untrennbar verbunden mit der blutigen Abspaltung Pakistans. Das sogenannte Land der Reinen entstand zeitgleich als Heimat der indischen Muslime – und als die britischen Kolonialherren die Grenzlinien der beiden zukünftigen Staaten bekanntgaben, verließen Millionen ihr zu Hause, um auf die vermeintlich richtige Seite zu fliehen. Blinder Hass und Fanatismus machten sich breit. Moscheen, Tempel und Flüchtlingszüge gingen in Flammen auf. Hindus, Muslime und Sikhs ermordeten sich mit Macheten, Äxten und Gewehren.

Gandhi, in Indien bis heute als Vater der Nation verehrt, konnte das Zerbrechen des Subkontinents nicht verhindern. Der unaufhaltsame Marsch in die Freiheit hat Wunden hinterlassen, die bis heute nicht verheilt sind. Am sichtbarsten sind sie im geteilten Kaschmir, das Pakistan und Indien gleichermaßen für sich beanspruchen. Drei Kriege haben die beiden Nachbarn schon wegen Kaschmir geführt, das wie Pakistan muslimisch geprägt ist. In Indien hingegen sind seit der Unabhängigkeit rund 80 Prozent der Bevölkerung Hindus, doch im Gegensatz zu Pakistan ist das Land ein Schmelztiegel aller großen Weltreligionen geblieben.

"Jana Gana Mana", die gesungene Ode an Indiens göttlichen Schicksalslenker, beschreibt ein Reich, das es nicht mehr gibt. Dennoch machten die Väter der indischen Verfassung die alte Hymne, die Nobelpreisträger Tagore in der Kolonialzeit geschrieben hatte, im Januar 1950 zur offiziellen Nationalhymne. Damals verwandelte sich das junge, unabhängige Indien in eine föderale Republik. Politikwissenschaftler Sunil Khilnani hat einen internationalen Bestseller über die Idee hinter der Nation Indien geschrieben.

"Indien ist eine unnatürliche Nation. Es gibt keinen eindeutigen Grund, der dieses Land zusammenhält. Am Anfang dachten ja auch viele, dass Indien auseinanderbrechen würde. Die islamische Republik Pakistan galt als die stärkere Nation, weil sie durch ihre muslimische Prägung viel homogener war. Insofern hat das Projekt Indien noch nie den allgemeinen Erwartungen entsprochen. Ich glaube, was Indien verbindet, ist der Glaube an gemeinsame politische Prinzipien. Es ist nicht die Religion, nicht die Volkszugehörigkeit, nicht die Sprache – keine der natürlichen Merkmale europäischer Nationalstaaten trifft auf Indien zu. Was Indien bis heute zusammenhält, ist der Glaube daran, dass es möglich ist, eine offene Gesellschaft aufzubauen. Dieses Projekt haben wir mit unserer Verfassung von 1950 begonnen, und es gibt immer noch genug Menschen, die daran glauben. Wir sind noch lange nicht am Ziel, aber das gemeinsame Bekenntnis hält uns zusammen."

Indien hat die sporadischen Gewaltausbrüche vor allem aus zwei Gründen ausgehalten: weil die Bevölkerung in viele kleine Gruppen zerfällt, weil die Menschen auf dem Land kaum organisiert ist, und weil es in der Gesellschaft eine tiefe, stark religiös beeinflusste Unterwürfigkeit gegenüber Eliten gibt. Indien und seine demokratische Verfassung sind inzwischen über 60 Jahre alt. Aus der ehemals blockfreien, sozialistischen Republik ist eine Atommacht mit eigenem Raumfahrtprogramm geworden, die selbstbewusst einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat fordert. Indien öffnet sich seit Beginn der 90-er Jahre schrittweise dem globalen Handel. Für die indische Elite und auch für viele Experten in den westlichen Industrienationen scheint es außer Frage zu stehen, dass mit Indien neben China die zweite asiatische Supermacht der Zukunft heranwächst.

"Unglaubliches Indien", mit dieser internationalen Werbekampagne poliert das Land sein Image im Ausland auf. Indien will nicht länger als Land des Elends wahrgenommen werden, sondern als Partner auf Augenhöhe. Die indische Wirtschaft hat in den vergangenen 20 Jahren beeindruckende Wachstumszahlen geschrieben. Daneben existieren althergebrachte gesellschaftliche Schranken weiter. Das traditionelle Kastensystem, das ursprünglich wie die mittelalterlichen Zünfte vor allem der Arbeitsteilung diente, hat sich im modernen Indien als soziale Hierarchie etabliert, die den Menschen von Geburt an ihren gesellschaftlichen Platz zuweist. Die Schriftstellerin Bama Faustina aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu gehört zur untersten Kaste der Dalits, die früher Unberührbare hießen.

"Auf der einen Seite boomt das moderne Indien, wir schießen Satelliten ins All, wollen auf dem Mond landen und entwickeln ständig neue Technologien. Doch auf der anderen Seite brandmarken wir Millionen unserer Bürger als Unberührbare und verdammen sie dazu, um ihr täglich Brot zu kämpfen. Das macht Indien so widersprüchlich. Und trotzdem sind wir Dalits stolz darauf, Inder zu sein. Das ist wohl eine indische Spezialität. Es gibt viele hundert verschiedene Kulturen, Riten und Traditionen, Sprachen und Religionen. Aber wir gehören alle zu Indien. Denn wenn du kein Heimatland hast, dann hast du gar nichts. Das wäre die schlimmere Folter und der größere Schmerz."

Im kleinen Dorf Thulendi im bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaates Uttar Pradesh sind die Gemüter erhitzt. Die Männer sagen, dass ihre Politiker sie betrügen und vernachlässigen. Thulendi ist umgeben von miserablen Straßen. Oft gibt es tagelang keinen Strom. Mal vertrocknet die Ernte auf den Feldern, mal wird sie überschwemmt, weil sich niemand um ein Bewässerungssystem kümmert. Die bäuerliche Arbeit reicht kaum zum Überleben, sagen sie und beklagen die hohe Inflation.

"Wir haben das Vertrauen verloren. Kein Politiker kümmert sich um die Landbevölkerung, es geht immer nur um die Städte. (junger Mann) Die Politiker lassen sich hier nur blicken, wenn sie gewählt werden wollen, und dann sehen wir sie nie wieder. Und wenn die Regierung in Neu Delhi tatsächlich mal ein Programm für uns startet, dann kommt nichts davon bei uns an. Unsere Politik und die Behörden sind durch und durch korrupt. Wir haben das alles so satt."

Rahul wollte den Hunger und die Perspektivlosigkeit hinter sich lassen. Er hat sein Dorf in Bihar im Osten Indiens verlassen und schuftet jetzt im Großstadt-Müll. Der Teenager erzählt, dass er vor knapp einem Jahr mit seiner gesamten Familie nach Neu Delhi gezogen ist. Zur Schule gegangen ist der 18-Jährige nie. Früher hat er für einen Hungerlohn von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Zuckerrohrfeldern eines Großbauern geschuftet. Verbessert hat er sich nicht.

Heute, sagt Rahul, wühlt er sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch stinkende Müllberge, um zu verkaufen, was sich wiederverwerten lässt. Das reicht gerade so zum Überleben – im Slum, in einer winzigen Bude aus Pappkarton, alten Brettern und Plastikplanen.

Der Großraum Neu Delhi ist eine Supermetropole. Die ungebremste Zuwanderung sorgt für soziale Spannungen. Die Mieten explodieren – nicht nur in den Nobelvierteln, auch in den wuchernden Slums. Grünflächen verschwinden, das Wasser wird knapper. Die Stadt erstickt trotz ihrer hochmodernen, neuen U-Bahn im Verkehr, die Luftverschmutzung ist enorm. Die indische Hauptstadt und ihre Satellitensiedlungen sind mit über 20 Millionen Menschen einer der größten urbane Ballungsräume der Welt. Superreich und super arm leben auf engstem Raum zusammen.

Diese drei Jungs mit schicken Designer-Klamotten und Gel in den Haaren lieben Neu Delhi, weil es eine coole Stadt für junge Leute ist. Clubs, Partys, Mode, Technik, Facebook, das ist ihre Welt. Um Geld müssen sie sich keine Sorgen machen. Wer morgens in Delhi aufwacht, sagen die Teenager selbstbewusst, der muss sich einfach gut fühlen, weil hier alles geht.

Das sind die Ska Vengers, Indiens erste Ska-Band. Sänger Taru Dalmia hat zehn Jahre im Ausland gelebt. Seit der Musiker zurück in Neu Delhi ist, spielt er in ausverkauften Clubs - vor jungen Menschen aus der Ober- und Mittelschicht, die sich einen Club-Abend mit Ska-Musik und Cola mit Rum leisten können. Taru sagt, dass er sich manchmal kneifen muss, um zu begreifen, was um ihn herum passiert.

"Indien ist ein verrücktes Land mit Parallelwelten. Du hast Urvölker, die im Wald leben, und du hast moderne, städtische Eliten, die denken, dass sie in Europa oder Amerika leben. In vielen unserer Lieder geht es um Themen, die in den indischen Medien nicht vorkommen. In vielen Teilen des Landes erheben sich die Armen und greifen zu den Waffen. Es gibt den Aufstand der maoistischen Naxaliten, es gibt viele separatistische Bewegungen. Das Land steht an der Schwelle zur Gewalt, aber noch wird es zusammengehalten."

Das Indien von heute hat knapp 1,2 Milliarden Einwohner, Tendenz steigend. Schon bald wird es mehr Inder als Chinesen geben. Die Bevölkerung ist jung und bildungshungrig, über die Hälfte ist jünger als 25 Jahre. Diese junge Generation verlangt nach Entwicklung und Teilhabe. Politikwissenschaftler Sunil Khilnani glaubt, dass die größte Demokratie der Welt mit Verspätung vor ihrer eigentlichen Schicksalsfrage steht.

"Indien ist ein Land, das eine der größten Umwandlungen in der menschlichen Geschichte durchläuft. Wir versuchen diesen Prozess als erstes Land in der Geschichte der Menschheit unter den Bedingungen einer Demokratie zu gestalten. Wie verändern wir den Kapitalismus, damit er zu Indiens Bedürfnissen passt? Wenn wir darauf nicht zeitnah eine Antwort finden, dann wird die Legitimität des demokratischen Systems von den Bürgern in Frage gestellt und untergraben."

Derzeit folgt Indien dem Modell der etablierten westlichen Industrienationen und setzt alles auf die Wachstumskarte. Noch überwiegt die Zahl der geduldigen Menschen, die daran glauben, dass sie am Wohlstand ihrer Demokratie teilhaben können, wenn sie nur hart genug lernen und arbeiten. Das hat die indische Demokratie bis jetzt zäh und widerstandsfähig gemacht. Aber wie lange noch? Die Entfernung zwischen reich und arm wächst. Was diesen tiefen Klassenriss besonders gefährlich macht ist die Tatsache, dass er sich oft deckt mit Kastenschranken und religiösen und ethnischen Grenzen. Indiens Parteien versuchen genau daraus, politisches Kapital zu schlagen.
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