Einfühlung in das 19. Jahrhundert

10.07.2009
Jürgen Osterhammel erzählt in "Die Verwandlung der Welt" das 19. Jahrhundert nicht chronologisch nach, sondern identifiziert und analysiert die maßgeblichen Elemente der Epoche. Er spürt den globalen Veränderungen nach. Es entsteht ein lebendiges Bild der Umbrüche dieser Zeit.
"Annäherungen", "Panoramen", "Themen" heißen die drei Teile der "Verwandlung der Welt" suggestiv ungenau. Jürgen Osterhammel, der jedem Welthistoriker ein "demütiges Abhängigkeitsverhältnis zur Forschung" zu bewahren empfiehlt, beherrscht die gewaltige Materialmenge so souverän, dass Genauigkeit, Gewichtung und Verknappung zu einem Verfremdungseffekt führen: So las man noch nie über das 19. Jahrhundert, so las man noch nie in ihm.

Hier spielt nicht Bismarck eine Hauptrolle, sondern die Uhr und damit die komplizierte Angleichung der Weltzeiten. Hier macht der Hunger bzw. dessen Vermeidung Geschichte, genauso das Restaurant als der Ort des globalen Geschmacksaustauschs. Chinas Zurückbleiben am Ende der Qing-Dynastie und Japans Assimilierung westlicher Produktionsmethoden interessieren mehr als die bürgerlichen Revolutionen in Mitteleuropa. Die Sklaverei bleibt kein US-amerikanisches Phänomen, denn in Brasilien dauerte sie länger und betraf noch mehr Menschen.

"Die Verwandlung der Welt" ist dick genug, um alle Wirklichkeitselemente, die Osterhammel für maßgeblich hält - darunter: "Städte", "Frontiers", "Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen", "Netze", "Hierarchien", "Wissen" -, den nötigen Raum zu geben. Das Buch ist aber zu dünn, um Einzelheiten, erst recht bekannte, platt zu walzen. Die Gründung des Deutschen Reiches spielt schlicht keine Rolle. Dass die Imperien, zumal das britische Empire, womöglich wichtigere Einheiten waren als Nationalstaaten, wird dagegen sorgfältig ausgeleuchtet.

Osterhammel widersetzt sich der Annahme, Geschichte vollziehe sich in straffen Kausalitätsketten, zu denen die politische Geschichte die stabilsten Glieder liefert. Er traut dem Raum als (aufgrund des Missbrauchs im Nationalsozialismus oft inkriminierter) historischer Kategorie genauso viel zu wie der Zeit, hält den Großbegriff "Moderne" für begrenzt aussagekräftig, kümmert sich wenig um die eindeutige kalendarische Abgrenzung des 19. Jahrhunderts und geht das Eurozentrismus-Problem offensiv an:

"Erwartungen, Vorwissen und kulturelle Selbstverständlichkeiten sind nicht standortneutral."

Den Fokus erzählerisch auf das kleinste Detail richten: Osterhammel kann das und zeigt es, indem er mit Harriet beginnt, der Schildkröte, die 1835 auf den Galapagos-Inseln den jungen Charles Darwin kennengelernt hat und 2006 in einem australischen Zoo verstarb.

Den Fokus systematisch auf ein ganzes Zeitalter richten: Osterhammel kann auch das und beweist es in den grandiosen Kapitalanfängen, wenn er mit großer Leichtigkeit etwa ein Phänomen wie das "Netz" unter den Aspekten "Reichweite, Dichte, Löcher" als typische Denkform des 19. Jahrhunderts und als global anwendbare Hintergrund-Metapher ausweist.

Immer schreibt Osterhammel pointiert, auf steile Thesen ist er nie aus. Die Wirklichkeit erscheint ihm zu vielfältig, als dass sie einfache Nenner haben könnte. Immerhin, durch fünf abstrakte Merkmale markiert Osterhammel das 19. Jahrhundert schließlich doch: Es sei das Zeitalter "asymmetrischer Effizienzsteigerung", "gesteigerter Mobilität", "asymmetrischer Referenzverdichtung" (d. i. ungleichmäßiger interkultureller Ideentransfers), der "Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie", der "Emanzipation".

Aber das klingt viel trockener, als sich Osterhammel über weite Strecken liest. Tatsächlich schreibt er so gut, so klug, so packend, dass man sich auf eine Geschichte aller Jahrhunderte und Erdteile aus seiner Tastatur freuen würde.

Besprochen von Arno Orzessek

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
C. H. Beck, München 2009
1568 Seiten, 49,90 Euro