Eine vormoderne Welt

Von Sebastian Engelbrecht · 03.04.2012
Wenn es nach den Ultraorthodoxen in Israel ginge, müssten Frauen in Bussen hinten sitzen. Gesichter von Frauen auf Plakaten sind für sie inakzeptabel. Der Einfluss der Ultraorthodoxen wächst spürbar. Mitten im modernen Staat Israel beanspruchen sie immer mehr Raum für sich, Raum, in dem ihre rigiden Regeln gelten sollen.
Heute gehören zehn Prozent der Bevölkerung zu den streng Religiösen. Sie leben, als hätte es Aufklärung und Demokratie nie gegeben. Zudem lehnen große Teile der Ultraorthodoxen den Staat Israel und den Zionismus ab.

Zwei Männer tanzen auf der Straße, in Mea Shearim, dem Viertel der religiösen Juden in Jerusalem. Sie tragen buschige schwarze Bärte und Schläfenlocken, weiße Hemden und weiße Käppis auf dem Kopf. Sie haben ihren roten Transporter am Straßenrand abgestellt. Er blockiert den Bürgersteig und die enge Straße. Auf dem Dach des Transporters ist ein mächtiger Lautsprecher installiert. Die beiden fassen sich an der Schulter, recken die Arme in die Höhe und lachen. Sie verehren Rabbi Nachman von Bratslaw, der im 18. Jahrhundert in der Ukraine lebte und halten sich an seine mystische Lehre.

Auf dem Bürgersteig drängen sich Männer in schwarzen Kaftanen an dem störenden Wagen vorbei. Ernst, befremdet, kopfschüttelnd blicken sie auf die tanzenden Männer. Auch die Zuschauer sind streng religiöse Juden. Aber ihre Kleidung verrät, daß sie zu einer anderen Gruppierung gehören: schwarzer Hut, Schläfenlocken, an den Hosennähten hängen die Schaufäden ihrer Gebetsschals. Alle hier sind Ultraorthodoxe – und doch ganz verschieden.

Wir sind auf dem Weg zu Rabbiner Avraham Froilich in Mea Shearim. Er leitet ein Jeschivah, eine Talmudschule in Mea Shearim.
"Ich bin von – wie man sagt – Lita’im, obwohl ich aus einer deutschen Familie geboren bin. Meine Eltern sind in Michelstadt geboren und gelebt in Gelsenkirchen, aber die Erziehung der Familie, die aus Deutschland gekommen ist, ist näher an der litvischen Erziehung."

Froilichs Familie stammt aus Deutschland und gehört doch zur Gruppe der "Lita’im", zu den Litauern. Es gibt zwei Gruppen von streng Religiösen: die Chassidim und die Litauer. Das Zentrum der Litauer war vor dem Holocaust Wilna, die litauische Hauptstadt, das "Jerusalem des Ostens". Die Lehre der Litauer hatte Einfluss weit über die Grenzen des Landes hinaus, nach Polen, Ungarn – und bis nach Deutschland. Die Litauer studieren die ganze Woche über den Talmud, das große universale Werk der rabbinischen Literatur. Der Talmud ist eine Auslegung der 613 Gebote aus den fünf Büchern Mose – ein Buch voller Diskussionen über das jüdische Religionsgesetz. Auch die andere große Gruppe der Ultraorthodoxen, die Chassidim, lesen den Talmud, aber sie sind offener für andere religiöse Ausdrucksformen als das Studium: Sie tanzen, singen und deuten die Thorah mystisch. Für Litauer wie Avraham Froilich sind das Ablenkungen vom Eigentlichen. Aber heute, meint Froilich, sei der Unterschied zu den Chassidim gar nicht mehr so erheblich wie zu den Zeiten des großen Rabbis Baal Schem Tov. Er begründete den Chassidismus.

"Der Chassidismus ist gegründet worden vor ungefähr 250 Jahren durch den Rabbiner Baal Schem Tov. Er war in der Ukraine, in Mesritsch. Damals war eine sehr schwere Zeit. Die Ukrainer und die Polen haben damals große Vertreibungen und Vernichtungen des Judentums gemacht."

Wer in den großen Zentren der streng Religiösen in Israel lebt, kann an der Kleidung erkennen, zu welcher Gruppe ein Charedi, ein Gottesfürchtiger, gehört. Die Chassidim sehen besonders urtümlich aus mit ihren Streimeln, den osteuropäischen Pelzmützen, die sie am Sabbat auch in der Hitze des Orients tragen. An der Farbe der Mäntel läßt sich erkennen, zu welcher Gemeinschaft sie gehören: Gur, Satmer, Bels, Vishnitz, Chabad oder Bratslaw. Einige tragen Knickerbocker-Hosen und Kniestrümpfe, andere breite Gürtel. Die Litauer dagegen wirken weniger fremd. Sie tragen schwarzen Hut und Anzug und einen gestutzten Bart. Und sie verzichten auf lange Schläfenlocken. Der Potsdamer Judaist Eik Dödtmann hat die Unterschiede bis ins Detail studiert. Er arbeitet an einer Dissertation über das "Erstarken" der Charedim in Israel.

"Für einen Insider, für einen, der selber Charedi, Ultraorthodoxer ist, ist die Kleidung quasi das Erkennungsmerkmal schlechthin. Weil wenn man sich in dieser Welt bewegt, wenn man in Bnei Brak oder Mea Schearim aufgewachsen ist, dann kennt man die Codes, die für einen Außenstehenden jetzt nicht sichtbar sind, weil man das Gefühl hat: Die sehen alle gleich aus."

Gehen wir ein paar Gassen weiter durch Mea Shearim, durch Gassen, die so eng sind, das keine Autos durchfahren können. An einer Straßenecke prangt neben einem Gewirr von Elektro- und Telefonkabeln ein weißes Blechschild an der Hauswand. "Jeshivat Thorah waJir’ah" steht da in großen schwarzen Buchstaben – "Talmudschule Thorah und Gottesfurcht". Es ist die Kaderschmiede der strengsten Antizionisten unter den Ultraorthodoxen, der Gruppierung "Neturei Karta". Wie der Name sagt, begreifen sie sich als die "Hüter der Stadt", als Wächter von Jerusalem. Am Eingang empfängt uns Chaim Erntal, ein weißbärtiger alter Mann im schwarzen Kaftan.

"Die Juden, die die Thorah studieren, die tun, was in der Thorah steht, die die Thora nicht untergehen lassen – das sind die Hüter der Stadt."

Chaim Erntal spricht Jiddisch. Hebräisch als moderne Alltagssprache akzeptiert er nicht. Die Wiederbelebung der biblischen Sprache durch die Zionisten lehnen die Männer von "Neturei Karta" ab. Modernes Hebräisch zu sprechen, ist für sie eine Sünde – wie überhaupt die zionistische Ideologie.
Die Gründung eines Staates Israel hat für die Gruppierung "Neturei Karta" etwas Anmaßendes. Juden sollen sich ihrer Meinung nach von den anderen Völkern dadurch unterscheiden, dass sie gerade keinen weltlichen Staat gründen. Sie leben in der Erwartung des Messias und des mit ihm kommenden göttlichen Staates.

Die radikalen Antizionisten unter den Ultraorthodoxen berufen sich auf ein Zitat aus dem Talmud. Da ist im Traktat Ketubbot von drei "Schwüren" die Rede. Die Gottesfürchtigen sollen sich verpflichten, erstens nicht in Massen und mit Gewalt ins Land Israel einzuwandern. Zweitens sollen sie die Völker der Welt nicht herausfordern. Und drittens sollen die Juden geloben, keine eigene Regierung zu bilden. Die Antizionisten unter den Charedim interpretieren diese Maßgaben gegen den Staat Israel.

Die höchste Autorität der Neturei Karta ist Rabbi Reuven Katzenellenbogen. Seine Familie stammt aus Litauen. Der Urgroßvater Katzenellenbogen wanderte schon Mitte des 19. Jahrhunderts nach Palästina ein, vor dem Beginn der zionistischen Einwanderung.

"Das ist ein Unterschied, ob ich dort nur wohnen will oder ob ich dort eine Armee habe und Gewalt ausübe. Wir sind hierher gekommen, als die Türken und die Briten regierten – egal wer. Ein Jude in Amerika wohnt unter Amerikanern. Ein Jude in Amerika will keinen eigenen Staat haben in Amerika. Da sagen wir doch auch nicht: dass wir so viele sind und deshalb etwas eigenes haben wollen."

Katzenellenbogen ist stolz, dass alle seine Anhänger lupenreine Antizionisten sind. Das heißt: Sie sind nicht nur ideologisch gegen den Staat, sondern auch praktisch. Sie nehmen kein Kindergeld vom Staat an und keine Stipendien für Talmud-Studenten. Und sie beten nicht an der Westmauer des früheren israelitischen Tempels unterhalb des Felsendoms. Diese sogenannte "Klagemauer" haben die Zionisten 1967 mit Gewalt erobert, und sie wurde zum Wahrzeichen des zionistischen Staates. Für Katzenellenbogen und seinen Adlatus Chaim Erntal ist das inakzeptabel. Dass ein junger Mann, der in der Tradition der Neturei Karta aufwächst, nicht zur israelischen Armee geht, versteht sich von selbst.

"Warum gehen sie nicht? Weil es Juden verboten ist, ein Gewehr zu tragen, eine Armee zu haben. Sich zu schlagen wie die Völker, das ist etwas ganz Schlimmes. Und sie sind hingegangen und haben sich mit den Arabern bekriegt – das gehört sich nicht. Juden dürfen nicht ins Militär gehen, weil das gegen Gottes Gebot ist."

Einen so strengen Antizionismus vertreten nur etwa fünf Prozent der Charedim. Die große Mehrheit ist "a-zionistisch", wie es der Experte Eik Dödtmann formuliert: Sie nehmen Geld vom Staat, aber im alltäglichen Leben ist für diesen Staat kein Platz. Es spielt sich allein in der ultraorthodoxen Gesellschaft ab.

"Zu allererst gilt: Ihre Form von jüdischer Identität, nämlich dieser strengen Einhaltung aller Gebote und Verbote, 613 an der Zahl, der strikten Einhaltung von Ritualen, dem Familienbild, dem Ideal des jüdischen gelehrten Mannes zu entsprechen – das sind im Endeffekt die obersten Werte, und der Staat und das Land Israel sind – sagen wir mal – zweitrangig."

Was Litauer und Chassidim verbindet, ist dies: Sie gehen mehrheitlich nicht arbeiten. 55 Prozent der männlichen Ultraorthodoxen widmen ihr Leben ganz dem Studium der heiligen Schriften und ihrem Glauben. Das ist ein künstlicher Zustand. In den osteuropäischen Herkunftsorten war es üblich, dass die Gottesfürchtigen auch einen weltlichen Beruf hatten – bis auf wenige Rabbiner. Menachem Brod, der Sprecher der chassidischen Chabad-Gemeide, erklärt, warum es in Israel heute anders ist.

"Die Wahrheit ist, dass das etwas ist, das es so in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Früher war es so, dass ein sehr kleiner Teil des Volkes Israel die Thorah studiert hat, und die anderen, auch die Ultraorthodoxen, haben gearbeitet. Dann kam es zu einer Reaktion auf die Shoah: Die Shoah hat uns diese Welt des Thorah-Studiums zerstört, all die Meister des Thorah-Studiums wurden durch die Shoah vernichtet. Deswegen muß die Welt des Thorah-Studiums wieder aufgebaut werden, und daher hat man gesagt: Jetzt sollen alle nur noch Thorah studieren. Und sie hatten wirklich Erfolg damit, sie haben die Welt der Thorah wieder aufgebaut. Aber jetzt ist sie schon zu groß geworden, man kann es gar nicht mehr aufrecht erhalten. Deswegen beginnt jetzt in der ganzen charedischen Bevölkerung ein Trend, sich auf den Arbeitsmarkt zu begeben. Es geht einfach nicht anders."

Immerhin arbeiten 60 Prozent der ultraorthodoxen Frauen. Der Staat unterstützt die Großfamilien durch Kindergeld und Stipendien für verheiratete Studenten an den Talmudschulen. Dennoch leben 60 Prozent der Charedim unterhalb der Armutsgrenze. Eine unproduktive Gesellschaft kann auf Dauer nicht überleben. Das wird immer mehr Charedim klar: In den vergangenen zwei Jahren stieg die Beschäftigungsquote der Ultraorthodoxen von 38 auf 45 Prozent. Einer der Charedim, die den Militärdienst absolviert und einen weltlichen Beruf haben, ist Kobi Arieli.

Arieli ist Moderator beim Armee-Rundfunk. Jeden Vormittag um 10 Uhr hat er seine eigene Show. Zusammen mit einer Co-Moderatorin plaudert er eine ganz Stunde lang, ohne Pause.

"Der harte Kern wird hart bleiben, und an den Seiten wird es immer größere Öffnungen geben. Ich bin zu hundert Prozent überzeugt, dass die orthodoxen Juden auf eine absolute Israelisierung zugehen. Die orthodoxen Juden werden sich einfügen und ein Teil der israelischen Gesellschaft werden. Übrigens wird in der Armee auch der Kommandant orthodox sein. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran. Das ist ein Prozess, der zwangsläufig eintreten wird."

Am weitesten ist dieser Prozess schon heute unter den orientalischen oder sephardischen Ultraorthodoxen vorangeschritten. Ein großer Teil von ihnen arbeitet und leistet den Militärdienst. In der Knesset sind sie mit zehn von 120 Sitzen stark vertreten – in der "Schas"-Partei. Aus der Sicht des Knesset-Abgeordneten Chaim Amsalem, eines Abtrünnigen von Schas, müsste die Partei die Integration der Charedim noch stärker vorantreiben.

"Ich war der Erste, der gesagt hat: Ich bin ein orthodoxer Jude und zionistisch. Ein orthodoxer Jude und Zionismus – das passt nicht zusammen. Kann es so etwas geben, orthodox und zionistisch? Ja. Denn für mich ist ein orthodoxer Jude jemand, der die Gebote einhält, und ich bin Zionist, weil ich denke, dass wir den Staat Israel stark machen müssen, dass wir für diesen Staat Militärdienst leisten und arbeiten müssen. Wir müssen das Ghetto verlassen. Wir sind nicht aus den Ghettos geflohen, um hier ein neues, großes Ghetto zu schaffen."

Für viele Ultraorthodoxe ist die Rede von der "Israelisierung" der Charedim eine unerträgliche Vorstellung. Ihnen schwebt das Gegenteil vor: Ein frommes Volk Israel, das als Ganzes nach den Regeln der Thorah lebt – letztlich ein Gottesstaat. Der Jerusalemer Rabbiner Aharon Shapira warnt vor einem Wandel.

"Die Welt der Thorah wacht eifersüchtig über ihren Weg, über ihre Traditionen. Sie ist nicht bereit und wird nie bereit sein, irgendetwas zu verwässern. Im Gegenteil: Sie haben einen klaren Weg, der von unseren Vätern und Vorvätern vorgegeben wurde. Es ist ein sehr klarer Weg ohne jegliche Abweichungen, nicht mal die kleinste. Und die Welt der Thorah wird mit aller Macht daran festhalten und wird es nicht zulassen, dass eine ‚Israelisierung‘ – wie Sie es nennen – passiert. Im Gegenteil: Wir halten an der alten Methode fest, ohne jede Veränderung."
Mehr zum Thema