Eine überraschend neue Sicht auf den Kosmos

04.09.2011
Bei Verlagen gilt als Binsenweisheit, dass jede mathematische Gleichung in einem Buch die Leserzahl halbiert. Nach dieser Regel werden die "Zyklen der Zeit" von Roger Penrose kaum eine Handvoll Leser finden. Doch der Wust an Formeln sollte niemanden abschrecken: Roger Penrose hat ein spektakuläres Buch geschrieben, das wirklich eine überraschend neue Sicht auf den Kosmos vermittelt.
Ihm geht es dabei vor allem um die Entropie, eines der am schwierigsten zu fassenden Phänomene. Salopp formuliert ist die Entropie ein Maß für die Unordnung im Universum. Nach einer der Grundregeln der Physik nimmt die Entropie stets zu, die Unordnung im All wird also immer größer. Im Alltag lässt sich das noch recht einfach fassen: Gießt man weiße und rote Farbe in einen Eimer, so sind die Farbteilchen anfangs schön geordnet. In einem Bereich ist es weiß, im anderen rot. Rührt man nun die Farbe um, vermischt sich alles zu rosa – aber selbst jahrelanges Rühren brächte nie wieder die anfängliche Ordnung von weiß und rot zurück. Die Entropie im Eimer hat zugenommen.

Für die Kosmologen ist die stetige Zunahme der Entropie ein großes Problem. Denn der Urknall, jener heiße, explosive Moment am Anfang unseres Universums, scheint alles andere als geordnet gewesen zu sein. Wie kann danach die Unordnung noch zunehmen? Für Roger Penrose liegt die Lösung dieses Rätsels vor dem Urknall. Für ihn durchläuft unser Kosmos einen ewigen Zyklus aus Urknall, Ausdehnung, Auflösung der Materie und wieder neuem Urknall. Beim Übergang auf das neue Weltzeitalter, wie Penrose die einzelnen kosmischen Episoden nennt, wird die Entropie mathematisch trickreich jeweils wieder praktisch auf Null gestellt. Dem Universum ergeht es wie dem Wasser in den Bildern des berühmten niederländischen Künstlers Maurits Escher: Es ist immer im Fluss, kommt aber nie an. Das Unten ist zugleich das Oben, der Anfang zugleich das Ende.

Roger Penrose gehört zu den berühmtesten Mathematikern unserer Zeit. Gemeinsam mit Stephen Hawking hat er schon in den 60er-Jahren grundlegende Arbeiten zum Urknall und der Struktur unseres Kosmos verfasst. Da wundert es nicht, dass er seine wagemutige Hypothese in einem mehr als anspruchsvollen Ritt durch die moderne Physik präsentiert. Nach der sehr theoretischen Einführung in die Entropie darf sich der Leser bei der Schilderung der astronomischen Beobachtungen im expandierenden Kosmos etwas erholen, bevor es schnell zu Relativitätstheorie, Schwarzen Löchern und Quantengravitation geht. Penrose fühlt sich spürbar am wohlsten, wenn er einen Zusammenhang nicht in Worte fassen muss, sondern ihn durch eine mathematische Gleichung darstellen kann. Die zahlreichen Grafiken tragen nicht immer zum Verständnis des komplizierten Inhalts bei.

Dem Spektrum-Verlag scheinen die vielen Formeln nicht zu gefallen. Denn schon im Klappentext heißt es, Penrose erläutere seine Weltsicht mit wenigen einfachen Formeln, der Rest der Mathematik sei dagegen in den Anhang verbannt worden. Eine fulminante Untertreibung: Um das Formelwerk des Autors schon im Haupttext zu durchdringen, sind einige Semester Physik-Studium erforderlich. Der Anhang ist mehr Teil eines Fach- als eines Sachbuches. Dennoch weiß Roger Penrose zu fesseln. Seine "Zyklen der Zeit" sind ein im besten Sinne schräges Buch: Es verstört beim Lesen, oft frustriert es sogar – doch zugleich fasziniert es auf wundersame Weise. Denn man bekommt als Leser ein Gefühl dafür, wie Penrose ahnt, dass der Urknall nicht ein einmaliges Ereignis war, sondern dass unser Kosmos ein ewiges Kommen und Gehen ist.

Besprochen Dirk Lorenzen

Roger Penrose: Zyklen der Zeit. Eine neue ungewöhnliche Sicht des Universums
Übersetzt von Thomas Filk
Spektrum Sachbuch 2011, 350 Seiten, 29,95 Euro