Eine traumatisierte Gesellschaft atmet auf

Von Peter Lange · 02.05.2011
Egal, ob Osama bin Laden zuletzt noch der furchtbarste Terrorist war oder nur noch eine abgehalfterte Symbolfigur – die Bedeutung seines Todes für die Menschen in den USA ist kaum hoch genug einzuschätzen.
Wer nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in die Vereinigten Staaten reiste, der erkannte dieses Land kaum wieder. Der erlebte eine verstörte Gesellschaft, paralysiert und traumatisiert gleichermaßen, anfällig für simpelste law-and-order-Parolen, als hätte es eine über 200-jährige bürgerliche Freiheitsgeschichte nie gegeben.

Millionen normale und durchschnittliche US-Bürger, die ihr Land kaum jemals verlassen haben, konnten nicht begreifen, wie es möglich war, dass da erstmals jemand einen Krieg in ihr Land getragen hat. Dass der Urheber der infernalischen Anschläge fast zehn Jahre nicht gefasst und nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte, war eine offene Wunde. Daran konnte auch der Krieg gegen den Ersatzschurken Saddam Hussein nichts ändern. Der Tod des Osama bin Laden kann dazu beitragen, dieses Trauma zu heilen und der amerikanischen Gesellschaft zu helfen, wieder zu sich selbst zu finden.

Aber es darf darüber nicht vergessen werden, dass nicht nur die USA betroffen sind. Die Blutspur des Al Kaida-Netzwerks zieht sich durch die ganze Welt: von Bali über Madrid und London, Djerba in Tunesien bis nach Kenia und in den Irak. Der Terror Osama bin Ladens richtete sich unterschiedslos gegen alle, die sich zufällig an den jeweiligen Anschlagsorten aufhielten, und eben nicht nur gegen US-Bürger.

Insofern gibt es ein weltweites Aufatmen – aber nicht weniger Grund zur Vorsicht. Wenn es stimmt, was die Terror-Experten sagen, dass nämlich Al Kaida längst zu einer Art weltweiter Franchise-Marke mutiert ist; zu einer Hydra, der ständig neue Köpfe wachsen – dann kommt jetzt eine besonders gefährliche Phase. Diejenigen, die dem Terror nicht abschwören wollen, könnten versucht sein, jetzt gerade zu zeigen, dass es Al Kaida noch gibt.

Der Tod des Osama bin Laden trifft die radikalen Islamisten ohnehin in einem denkbar ungünstigen Moment. Überall dort, wo die jungen Leute in Nordafrika und Arabien ihre Angst verloren haben und aufgestanden sind gegen die Despotie, überall dort kommen die Islamisten nicht zum Zuge. Die Menschen, die ihr Leben für Freiheit und Demokratie riskieren, sind weit davon entfernt, ihre alten Diktaturen gegen eine islamistische Diktatur einzutauschen. Werden ihre Erwartungen enttäuscht, kann sich das auch ändern. Mit dem heutigen Tag aber gibt es immerhin die Chance, dass mit den Revolutionen nicht nur autoritäre Regime gestürzt werden, sondern auch dem islamistischen Terror der Boden entzogen wird.
Mehr zum Thema