Eine Stunde Arbeit als Geschenk

Leonie March im Gespräch mit Dieter Kassel · 18.07.2013
Jeder möge genau 67 Minuten in den Dienst seines Landes stellen, so wie er 67 Jahre lang politisch aktiv war, wünschte sich Nelson Mandela, der erste schwarze Präsident Südafrikas. Viele folgen heute dieser Bitte, indem sie Schulen renovieren oder Essen an Arme verteilen.
Dieter Kassel: Vor einer guten Stunde, um acht, da sangen Millionen Schulkinder in Südafrika "Happy Birthday!". Und sie sind nicht die Einzigen, die heute ihrem Nationalhelden gratulieren, denn heute wird Nelson Mandela 95 Jahre alt. Über die Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag, über seinen Einfluss bis heute und über sein Land im Jahre 2013 reden wir jetzt mit der Südafrikakorrespondentin Leonie March. Schönen guten Morgen nach Kapstadt!

Leonie March: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Wie ist denn die Atmosphäre am heutigen Geburtstag, ist wirklich das ganze Land in Feierlaune?

March: Also Feierlaune vielleicht nicht, vor dem Hintergrund, dass Nelson Mandela ja immer noch im Krankenhaus liegt, aber feierlich ist die Stimmung im Land ganz bestimmt. Es gibt unzählige Veranstaltungen, die heute Mandelas Lebenswerk würdigen, und außerdem sind schon seit den frühen Morgenstunden viele Südafrikaner dem Aufruf gefolgt, gemeinnützige Arbeit zu leisten, das klang ja eben in den Nachrichten auch schon an, etwa, indem sie sich um Waisenkinder kümmern, ob sie Schulen renovieren oder ob sie Essen an die Armen verteilen. Und das hat ja bereits Tradition, denn seit mehreren Jahren sind alle Südafrikaner dazu aufgerufen, am Geburtstag von Nelson Mandela 67 Minuten ihrer Zeit für einen gemeinnützigen Zweck zu spenden.

Jede Minute zählt da für ein Jahr, das Nelson Mandela politisch aktiv in den Dienst seines Landes gestellt hat, und dem sollen die Südafrikaner nun folgen, und das tun sie wirklich zahlreich. Ich könnte mir vorstellen, dass es in diesem Jahr noch mehr werden könnten als in den anderen, weil eben die Menschen vielleicht hoffen, dem schwerkranken Nelson Mandela dadurch etwas Kraft zu spenden und ihn vielleicht auch stolz auf sein Land zu machen.

Kassel: Sie haben das Wort alle gerade so betont. Ist zumindest, wenn es wirklich um diese Ehrfurcht vor Mandela und die Anerkennung seines Lebenswerkes geht, ist da wenigstens Südafrika wirklich komplett eins?

March: Ja, das stimmt. Mandela ist wirklich, würde ich mal sagen, die einzige Person hier, wo sich die Geister nicht scheiden zwischen schwarz und weiß und den ganzen anderen Abstufungen der Hautfarben, die es hier so gibt, denn Mandela ist wirklich der Vater der gesamten Nation, und das wird an Tagen wie diesem besonders deutlich. Es gibt kaum jemanden, von dem ein kritisches Wort zu hören ist über Mandela. Und schwarze und weiße Südafrikaner verehren ihn wirklich, lieben ihn wirklich wie einen Großvater. Und das ist ganz im Sinne Mandelas, denn er hat ja wirklich sehr, sehr viel Zeit und Energie drauf verwendet, die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die ja jahrzehntelang wirklich voneinander komplett getrennt waren, zu einen. Denken wir da nur an die Wahrheits- und Versöhnungskommission zum Beispiel, und heute, an seinem Geburtstag, hat man wirklich das Gefühl, dass alle Südafrikaner an einem Strang ziehen, dass sie alle zusammen für das Wohl ihres Landes und für eine bessere Zukunft sich einsetzen. Das ist nicht immer so, aber heute ist das durchaus spürbar, und da wird auch das Potenzial dieses Landes spürbar.

Kassel: Aber ist denn durch die Abschaffung der Apartheid, die man natürlich im Kern dann Mandela zu verdanken hat, durch die Abschaffung der Apartheid auch der Rassismus abgeschafft?

Rassismus in den Köpfen
March: Nein, natürlich nicht, das dauert natürlich länger. Die staatliche Rassentrennung ist abgeschafft, vor dem Gesetz sind Südafrikaner aller Hautfarben gleich, alle dürfen wählen, alle dürfen so leben, wie sie möchten und wo sie möchten, heiraten, wen sie wollen – das war ja alles während der Apartheid nicht so, aber der Rassismus aus den Köpfen der Menschen ist natürlich nicht komplett verschwunden, das dauert natürlich wesentlich länger. Da sind 20 Jahre eher eine kurze Zeit, und es gibt im Alltag noch immer viele Vorbehalte gegeneinander und Vorurteile, die gepflegt werden, also sowohl von Schwarzen gegenüber Weißen als auch von Weißen gegenüber Schwarzen, das begegnet einem hier wirklich auf Schritt und Tritt, obwohl sich natürlich viele Menschen im Alltag begegnen, auf den Straßen, in den Schulen, am Arbeitsplatz. Aber im Privatleben, da gibt es bei vielen immer noch kaum Schnittmengen, in den Städten vielleicht ein bisschen mehr als auf dem Land, aber da wirkt diese Trennung gesellschaftlich wirklich noch nach.

Kassel: Gibt es auch noch Weiße, die der Apartheid nachtrauern?

March: Ja, die gibt es. Das ist eine Minderheit, es gibt auch eine kleine rechte Minderheit hier, die zum Teil relativ lautstark dann auftritt, aber ich würde sagen, der Großteil der weißen Bevölkerung steht schon hinter dem neuen Südafrika, ist allerdings nicht einverstanden damit, was der ANC momentan hier im Land tut und wie der ANC regiert, da könnten diese alten Vorbehalte durchaus, wenn das so weitergeht, noch mal neu aufkommen.

Kassel: Der ANC ist ja ohnehin, glaube ich, insgesamt in Südafrika nicht mehr so angesehen, wie er es kurz nach 1994, nachdem Mandela Präsident wurde, war. Wo liegen da denn eigentlich genau die Probleme, was ist mit der Partei passiert?

March: Ja, also Jacob Zuma ist der Partei passiert, kann man eigentlich so sagen, das ist der amtierende Präsident des Landes, und unter Jacob Zuma, der ja immer wieder sehr gerne seine Nähe zu Nelson Mandela zitiert und ihn in seinen Reden auch immer wieder zitiert und angibt, dem politischen Weg Nelson Mandelas weiter zu folgen, Jacob Zuma unter dessen Amtszeit, im kommenden Jahr will er sich wiederwählen lassen für eine zweite Amtszeit, haben da Vetternwirtschaft und Korruption eigentlich deutlich zugenommen. Also da sind öffentliche Gelder, werden zum Beispiel verwendet für den Ausbau seines Privathauses, für neue Zäune für seine Kühe und so weiter, das sind alles Steuergelder. Gleichzeitig warten viele Südafrikaner noch immer auf einen Anschluss an das Strom- und Wassersystem zum Beispiel. Da klafft so eine große Kluft auf, da wird gesagt, der ANC hat die Bodenhaftung verloren, dem ANC liegt es irgendwie nur daran, sich zu bereichern, eben unter dem System Zuma, und eigentlich das Wohl der Bevölkerung ist denen egal.

Kassel: Es gab ja auch diese Episode am Anfang der schweren Erkrankung Mandelas, als der ANC ihn vor die Kameras, man muss fast sagen, gezerrt hat, und ein doch sichtlich schon relativ verwirrter Mandela sich da äußern sollte als Teil des ANC-Wahlkampfes. Wenn so was passiert, wenn man fast den Eindruck hat, die missbrauchen diesen Nationalhelden, wird das dem ANC auch übel genommen von der Bevölkerung?


"Fette politische Elite"

March: Ja, das wird es. Ich weiß nicht immer, ob dem ANC als Gesamtes, aber auf jeden Fall diesem System Zuma, weil der ANC ist wirklich eine große Partei mit vielen unterschiedlichen Stimmen. Und da gibt es auch durchaus Stimmen, die natürlich wirklich das Erbe Nelson Mandelas wahrnehmen und versuchen, Politik in seinem Sinne zu machen, aber an der Macht sitzen momentan wirklich andere, sowohl an der Macht der Regierung als auch an der Macht im ANC, und, ja, dieses Video zum Beispiel von diesem sichtlich schwerkranken Nelson Mandela, der da wirklich mit unbewegter Miene sitzt, während die politische Elite da um ihn herum scherzt und lacht, das hat hier für einen wirklichen Aufschrei gesorgt und einen enormen Unmut in der Bevölkerung, und das wurde wirklich von der Mehrheit als unmoralisch und als entwürdigend empfunden und als Zeichen, wie schlecht es eigentlich momentan steht um diese fette politische Elite.

Kassel: Wir reden heute Vormittag hier im Deutschlandradio Kultur im "Radiofeuilleton" am 95. Geburtstag von Nelson Mandela über sein Südafrika im Jahr 2013, aber natürlich auch über diesen Nationalhelden, wir reden mit der Südafrikakorrespondentin Leonie March. Frau March, wir haben jetzt beide in relativer Selbstverständlichkeit Nationalheld als Wort benutzt, haben – ich zumindest – auch von einem Mythos gesprochen. Ist anzunehmen, dass Nelson Mandela solche Formulierungen gefallen?

March: Ja, nicht ganz. Er hat immer gesagt, er ist kein besonderer Mensch. Desmond Tutu hat auch mal gesagt, er ist ein normaler Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Und ich glaube, das würde Nelson Mandela sehr gefallen, er ist ja immer sehr bescheiden aufgetreten, er hat immer gesagt, den Freiheitskampf, den habe ich auch nicht alleine geführt, sondern da waren durchaus auch andere dabei, und dieser Personenkult, der da ja wirklich um ihn entstanden ist, dem konnte er nie viel abgewinnen, da hat er zum Beispiel in seinem Buch "Bekenntnisse" geschrieben: "Im wahren Leben haben wir es nicht mit Göttern, sondern mit normalen Menschen zu tun, mit Männern und Frauen voller Widersprüche". Und so sieht er wirklich auch sich selbst, und deshalb hat er eben auch gesagt, an seinem Geburtstag möchte er nicht als Person gefeiert werden – das hat er gesagt, als er sich noch selbst zu Wort melden konnte vor ein paar Jahren –, sondern das schönste Geschenk sei, wenn die Südafrikaner wirklich in seinem Sinne handeln, also wenn sie gemeinnützige Arbeit leisten, wenn sie versuchen, eben Brücken zu bauen, und gemeinsam wirklich an einem Strang ziehen und für Gerechtigkeit und für Frieden eintreten.

Kassel: Nun haben Sie schon mehrere Dinge erwähnen müssen, die auch einen Schatten auf diesen Geburtstag werfen, und die Liste ist noch immer nicht vollständig, Frau March. Es gibt auch ziemliche – wie soll ich das sagen – Komplikationen innerhalb der Mandela-Familie, da gibt es einen Enkelsohn, der im Streit darum, welcher von zwei Orten nun der große Gedenkort werden soll – der eine ist sein Geburtsort, der andere der Ort, in dem er den größten Teil seiner Jugend verbracht hat –, da wurden irgendwie die sterblichen Überreste von drei Mandela-Kindern, wie sich jetzt rausgestellt hat, illegal in einen anderen Ort geschafft. Ein anderer Teil der Familie scheint den Namen doch im Wesentlichen als Marketingsymbol zu benutzen, unter anderem Wein damit zu verkaufen. Wie sehr belastet denn das Verhalten seiner Familie auch das Ansehen Mandelas?


Familie will Kapital aus seinem Namen schlagen

March: Also, ich glaube, an das Ansehen seiner Person, der Person Nelson Mandela, kommt das nicht heran, also Nelson Mandela ist dadurch nicht beschädigt worden, aber ganz klar das Ansehen seiner Familie, also vor allem in den letzten Wochen, als es da diese öffentlichen Streitigkeiten und Querelen gab um die Exhumierung von Nelson Mandelas verstorbenen Kindern. Das war dermaßen geschmacklos und dermaßen wirklich himmelschreiend, da sind viele Südafrikaner tief empört drüber. Das hat Nelson Mandela nicht verdient, hat man hier oft gehört in Gesprächen mit Familien. Ich glaube, große Erwartungen haben die Südafrikaner nicht an die Familie, und das macht viele Menschen natürlich auch traurig, weil sie sagen, eben mit diesem Namen Mandela wird jetzt so ein Ausverkauf gemacht, und das geistige Erbe des Vaters und Großvaters wird anscheinend überhaupt nicht gewürdigt, und daraus wird nur Kapital geschlagen. Und um es noch mal zu wiederholen, das hat er wirklich nicht verdient. Ich war zum Beispiel im vergangenen Jahr auch in Qunu, also dem Ort, in dem Nelson Mandela den größten Teil seiner Kindheit ja verbracht hat, und in dem die Familie noch immer ein Haus hat, und schon damals war die Enttäuschung über Nelson Mandelas Kinder und Enkel schon deutlich zu spüren. Ein Mann sagte mir dort, die Nachkommen hätten sich selbst nur im Kopf und scherten sich in keiner Weise darum, wie es den Leuten drum herum gehen würde, und würden das Andenken ihres Vaters und Großvaters wirklich mit Füßen treten. Und das ist schon sehr traurig, und das ist für das Land auch sehr traurig.

Kassel: Was würde denn der Tod Nelson Mandelas für das Land bedeuten?

March: Also früher hieß es ja, oder vor ein paar Jahren, war ja noch so die Sorge, dass dann hier der Bürgerkrieg ausbricht, dass dann irgendwie Weiße und Schwarze wieder gegeneinander kämpfen und so. Diese Befürchtungen gibt es eigentlich nicht mehr, nur noch eben unter diesen eben schon genannten rechten Gruppen. Es ist natürlich eine Symbolfigur, die fehlt, aber man muss sagen in den letzten Jahren, Nelson Mandela hat sich lange nicht mehr öffentlich zu Wort gemeldet, hat sich lange nicht mehr eingemischt, es gab lange auch keine wirklichen Videoaufnahmen mehr von ihm, und insofern ist so das Andenken, das ist inzwischen so ein bisschen abgekoppelt von der Person, und deshalb, denke ich, gibt es viele Leute, die auch diesem Erbe weiterhin folgen werden, auch wenn er nicht mehr lebt, und werden immer wieder daran erinnern, wir haben es Nelson Mandela zu verdanken, dass wir hier in Frieden und mit Demokratie leben können, und dem sollten wir auch nachfolgen, auch nach seinem Tod. Und dann natürlich muss man auch sagen, Nelson Mandela ist nicht nur eine Figur für Südafrika, sondern wirklich weltweit, hat die Menschen inspiriert, für Gerechtigkeit und für Versöhnung einzutreten, und deshalb haben ja die Vereinten Nationen zum Beispiel seinen Geburtstag ja auch weltweit zum internationalen Mandela-Tag erklärt, um eben etwas von diesem Geist der Menschlichkeit und des sozialen Engagements in die Welt zu tragen.

Kassel: Leonie March live aus Kapstadt zum 95. Geburtstag von Nelson Mandela. Vielen Dank, Frau March!

March: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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