Eine Stadt mit Verbindungen

Von Martin Sander · 06.06.2012
Der Schriftsteller Joseph Roth kam 1894 in Brody zur Welt, da war die Stadt die nordöstliche Grenzstation der K.-u.-k.-Monarchie kurz vor dem Russischen Reich. Roth spiegelte Brody mit seinem Vielvölkergemisch in seinen Werken. Zu sowjetischer Zeit wurde der Autor lange ignoriert.
Am Rand von Brody liegt ein Fußballstadion, durch dessen Lautsprecher gern Musik übertragen wird. Das Stadion wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf das Gelände des alten jüdischen Friedhofs gesetzt. Juden leben in Brody nicht mehr, vor einhundert Jahren stellten sie zwei Drittel der Bürgerschaft.

Heute ist Brody ein Provinznest im Nordwesten der Ukraine - und zugleich ein Ort, von dem man in der weiten Welt bereits gehört oder gelesen hat.

Das hat zum Beispiel mit dem Schriftsteller Joseph Roth zu tun. Roth kam 1894 in Brody zur Welt, als die Stadt die nordöstliche Grenzstation der K.-u.-k.-Monarchie kurz vor dem Russischen Reich war. Roth spiegelte Brody mit seinem Vielvölkergemisch aus Polen, Juden, Ukrainern und Deutschen sowie den Unwägbarkeiten seiner Grenzlage in seinen Werken. Zu sowjetischer Zeit wurde der Autor lange ignoriert.

Andrij Kortschak: "Ich habe zum Beispiel zum ersten Mal von Joseph Roth während der Perestroika gehört. Ich bekam mit, dass eine Ausstellung im Landeskundemuseum organisiert wurde, eine Ausstellung über Joseph Roth. 'Aber wer ist das denn?' Ach, das ist so ein antifaschistischer Schriftsteller. Und dann hat man vor dem Gymnasium 1986 ein Denkmal enthüllt, da war der Kopf von Roth dabei."

Andrij Kortschak, Jahrgang 1975, ist Historiker und unterrichtet am alten Gymnasium von Brody Geschichte. Er kommt Tag für Tag am Denkmal vorbei - an den Köpfen von fünf berühmten Schülern und Lehrern der Habsburger Zeit, darunter vier Ukrainer und der deutschsprachige Jude Joseph Roth. Heute ist die Unterrichtssprache des Gymnasiums Ukrainisch. Zu Roths Zeiten war es Deutsch, doch bereits kurz darauf wechselte man zum Polnischen.

Andrij Kortschak stammt aus einer ukrainischen Familie, die seit vielen Generationen in Brody lebt. Die Beziehung zu seiner Stadt und ihrer Geschichte beschreibt der Historiker mit einem Lehrergehalt von monatlich 100 Euro so:

"Wenn die Stadt zur Ukraine gehört, dann ist es eine ukrainische Stadt. Das ist logisch. Die Menschen aus dem Westen glauben heute, die Ukrainer wären sehr national eingestellt. Das ist nicht so. Die einen sind mehr, die anderen weniger national eingestellt. Aber Aggression oder Feindschaft gegen andere, das gibt es nicht.

Schon aus dem einfachen Grund nicht, dass die Ukrainer in die Europäische Union streben, um materiell überleben zu können. Für unsere Generation ist nicht die ukrainische Geschichte oder die jüdische oder polnische Geschichte von Brody interessant, sondern die gesamte Geschichte von Brody, die uns die polnische, jüdische, ukrainische und österreichische Kultur zeigt. Das ist so meine Sicht."

In Brody wurden nur wenige der habsburgischen Bürgerhäuser restauriert. Aber man hat vor einigen Jahren den alten Uhrturmpavillon im Stadtpark gegenüber der alten Prager Bank wieder aufgebaut, den Roth seinerzeit als Prestigeobjekt eines ehrgeizigen Bürgermeisters verspottete. Neben dem Uhrturm wird der ukrainischen Opfer des Stalinismus gedacht.

Das benachbarte Heimatmuseum stellt Waffen der nationalukrainischen Partisanenarmee aus, die teilweise mit Hitlerdeutschland kollaborierte, im Kontrast dazu einen rostigen Doppeladler, das Hoheitszeichen der österreichisch-ungarischen Monarchie. Indes droht einem Kulturdenkmal ersten Ranges der Einsturz.

Die große Festungssynagoge aus dem 18. Jahrhundert ist - neben dem neuen jüdischen Friedhof mit über sechstausend Grabsteinen - die wichtigste Hinterlassenschaft der ermordeten Juden von Brody, die sich überwiegend der religiösen Aufklärung und der deutschen Sprache verschrieben hatten. Ein Bürger aus Brodys Partnerstadt Wolfratshausen sammelt zwar gerade Geld, um das Dach notdürftig auszubessern, doch damit dürfte es nicht getan sein. Andrij Kortschak ärgert sich:

"Es ist für uns ein Problem, dass diese Synagoge zur Ruine verfällt. Es tut mir leid, dass Israel, das ein fünf Mal so hohes Staatsbudget wie die Ukraine hat, kein Geld für die Restaurierung finden kann. Es tut mir sehr leid, dass die Vereinigten Staaten kein Geld haben, um die Synagoge zu restaurieren. Und es tut mir auch für die Ukraine leid. Denn was unsere Stadtverwaltung angeht, da ist alles ein Desaster."

Die Armut lastet auf den Menschen. Gut bezahlte Arbeit gibt es wenig. Auch wenn Brody längst kein abgelegener Grenzort mehr ist, sondern eine Stadt mit weitläufigen Verbindungen. Denn genau hier trifft die Pipeline Odessa-Brody auf "Druschba", eine Hauptölleitung von Russland nach Mitteleuropa.

Doch der Gewinn geht nach Kiew und anderswohin. In Brody kommt er selten an, so selten, wie die vielen Güterzüge, die hier durchfahren, einen Halt einlegen.


Links bei dradio.de:
Vielvölkergeschichte und Postkommunismus
Reportagen aus dem polnisch-ukrainischen Grenzland
Der Uhrenturm im Stadtpark von Brody. Joseph Roth verspottete ihn als Prestigeobjekt eines ehrgeizigen Provinzbürgermeisters.
Der Uhrenturm von Brody. Joseph Roth verspottete ihn als Prestigeobjekt eines ehrgeizigen Provinzbürgermeisters.© Martin Sander