Eine schillernde Figur

Von Gerald Beyrodt · 17.03.2011
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Bekannt ist er für Sätze wie diesen: "Die Welt ist alles, was der Fall ist." Anlässlich des 60. Todestages ist im Schwulen Museum Berlin nun die Ausstellung "Ludwig Wittgenstein - Verortungen eines Genies" zu sehen.
Auf einem Porträt, das Wittgenstein selbst in Auftrag gab, sind seine Gesichtszüge, die seiner Mutter und seiner Schwestern miteinander überlagert. Die Montage sieht zwar ein wenig verschwommen aus, lässt aber Charakteristisches hervortreten.

"Familienähnlichkeit" lautet ein wichtiger Begriff in Wittgensteins Denken: Begriffe seien nicht klar definiert, sondern überlagerten einander in ihrer Bedeutung. Was zum Beispiel ein Spiel ist, lasse sich nicht ein für alle mal sagen. Brett- und Kartenspiele, Ball- und Kampfspiele hätten nicht unbedingt etwas gemein. Die Sprache sei ein kompliziertes Netz "von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und im Kleinen".

Die Berliner Ausstellung versucht, Wittgensteins Philosophie greifbar zu machen. Und sie zeichnet Lebensstationen von Ludwig Wittgenstein nach: Da ist das großbürgerliche, reiche Elternhaus in Wien, da ist die Schule in Oberösterreich, an der Wittgenstein Dorfschullehrer war, da ist die Universität Cambridge, an der er lehrte, und da ist die Einöde in Norwegen, in die er sich immer wieder zurückzog. Kristina Jaspers ist Kuratorin der Ausstellung.

Jaspers: "Bei Wittgenstein macht es absolut Sinn, Leben und Werk gemeinsam zu betrachten. Er selber formuliert, nur aus einem gelingenden Leben kann auch ein gelingendes Werk sozusagen hervorgehen. Insofern ist die Selbstbefragung notwendiger Bestandteil dessen, was ich formuliere."

In einem kargen, weißen Raum mit einer nackten Glühbirne in der Mitte sind Wittgenstein-Zitate zum Thema Denken zu hören.

Hörinstallation Sprecherin: "Sage dir beim Philosophieren immer wieder, dass Denken etwas ganz Hausbackenes sein muss, dass es sich nicht darum handelt, ein geheimnisvolles Wesen zu studieren, dass du verführt bist, wenn du denkst, dass hier ein geheimnisvoller Vorgang vorliegt. Es lässt sich kein Grund angeben, weswegen man denken soll, es sei denn, einen Grund von der Art dessen, weswegen man essen soll."

Wittgenstein hat seine Positionen immer wieder hinterfragt und radikal verändert. Sein Frühwerk ,der "Tractatus logico-philosophicus", ist als Standardwerk der Logik gelesen worden. "Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen", heißt es darin. ZU Ethik, Religion und Metaphysik äußert er sich nicht. Dabei interessierten ihn diese Themen sehr, wie aus Briefen hervorgeht. Der späte Wittgenstein untersuchte vor allem die Art und Weise, wie wir sprechen. "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch", schrieb er. Wörter funktionieren nach Regeln. Diese Regeln begrenzen auch unser Denken.

Wittgenstein hat oft mit sich gehadert, sein Leben oft in Frage gestellt, radikale Brüche vollzogen. Sein beträchtliches Erbe schlug er aus und überließ er seinen Geschwistern. Nachdem er den Tractatus verfasst hatte, hielt er die Philosophie ein für allemal für erledigt, wollte er sich anderen Tätigkeiten zuwenden, war Klostergärtner und Dorfschullehrer. Doch diesen Beruf musste er aufgeben, nachdem er ein Kind geschlagen hatte. Er wurde Dozent in Cambridge und schließlich 1939 Professor. Immer wieder zweifelte er am akademischen Leben.

Für eine Ausstellung im Schwulen Museum ist vergleichsweise wenig von Wittgensteins Homosexualität die Rede - einfach, weil wir wenig darüber wissen. Immerhin lernen wir drei seiner Liebhaber kennen. Als Makel empfand es Wittgenstein, dass er aus einer Familie getaufter Juden kam. In Briefen bezichtigt sich Wittgenstein, dass er seinen Freunden die jüdische Herkunft verschwiegen habe - für ihn fast so schlimm wie ein Verbrechen. Die Freunde reagierten mit einem Achselzucken.

Selbstbezichtigungen sind von Wittgenstein häufig zu hören. Immer wieder wirft er sich vor, seinen Liebhaber Francis Skinner "lieblos" behandelt zu haben. Die jüdische Herkunft und die Homosexualität seien prägend für Wittgenstein, findet Kuratorin Kristina Jaspers.

"Aus unserer Sicht spielt das eine ganz große Rolle auch mit dem Judentum und auch mit seiner Homosexualität, genau weil er dadurch immer eine Außenseiterrolle innehatte und dadurch etwas verbergen musste. Ich denke, das gehört ganz wesentlich zu dem Wesen von Wittgenstein, einerseits absolute Ehrlichkeit zu fordern und doch nicht in allen Punkten ehrlich zu sein. Und dieses Verbergenmüssen oder Verklausulieren sozusagen spielt da sicherlich eine Rolle im Ausdruck."

Inwieweit philosophische Werke sich aus biografischen Tatsachen speisen, lässt sich zwar nicht abschließend klären. Doch die Ausstellung legt nahe: Wittgensteins Leben und Werk greifen tatsächlich ineinander. Er verschweigt seine jüdische Herkunft und seine Homosexualität und lotet ein Leben lang die Grenzen der Sprache aus.