"Eine richtige, wirkliche Wahl, die auch zu Demokratie führen kann"

Hoda Salah im Gespräch mit Susanne Führer · 28.11.2011
Die Rolle der Islamisten in Ägypten werde im Westen überschätzt, sagt die Politikwissenschaftlerin Hoda Salah. Sie kritisiert die Rahmenbedingungen der Wahl und empfindet einen "bitteren Geschmack", da viele Revolutionäre noch im Gefängnis säßen - und ist doch voller Hoffnung.
Susanne Führer: Heute beginnen, heute haben die Parlamentswahlen in Ägypten begonnen. Dies sind die ersten seit der Revolution und dem Sturz Hosni Mubaraks. Ist das also ein guter Tag für Ägypten? Darüber will ich mit der Politikwissenschaftlerin Hoda Salah sprechen, sie stammt aus Ägypten, forscht und lehrt aber seit mehreren Jahren schon an der Freien Universität in Berlin. Herzlich willkommen hier im "Radiofeuilleton", Frau Salah!

Was meinen Sie, ist das heute ein historischer Tag, ein Tag der Freude für Ägypten?

Hoda Salah: Wissen Sie, vor ein paar Monaten, als Hosni Mubarak vor dem Gericht stand, da war das für mich und viele Ägypter und auch für die arabische Welt ein historischer Moment. Ich hätte gerne heute dieses Gefühl auch. Aber ich habe das leider nicht. Das ist kein historischer Moment für Ägypten , denn wir zweifeln sehr an der Glaubwürdigkeit dieser Wahl. Und das heißt, man schaut das so mit einem bitteren Geschmack an. Ich hoffe, dass es zu einem guten Ende kommt, aber wie die Rahmenbedingungen sind, das ist keine richtige demokratische Wahl. Aber ich begrüße das, dass die Ägypter auf die Straße gehen und wählen.

Führer: Warum meinen Sie, das wäre keine richtige demokratische Wahl? Also, wir haben gehört, es gibt lange Schlangen vor den Wahllokalen, vorher gab es jahrzehntelang einen Ein-Parteien-Staat, jetzt hat man geradezu eine überwältigende Auswahl an Kandidaten und Listen.

Salah: Und das ist die Entscheidung, die die Ägypter heute getroffen haben: Sie gehen auf die Straße, auch wenn sie nicht überzeugt sind. Das ist eine richtige, wirkliche Wahl, die auch zu Demokratie führen kann. Denn sie haben jetzt vor ein paar Tagen, das Militär und die Sicherheitspolizei, die sollen eigentlich heute die Wahl schützen, das sind diejenigen, die die Massaker auf dem Tahrir-Platz geführt haben und diese Unruhen und so weiter. Das heißt, sie haben momentan, in diesem Moment, viele Revolutionäre, die Träger dieser Revolution, sie sind im Gefängnis. Und das heißt, Sie sehen, dass sehr viele liberale Kräfte, die haben gestern zur Boykottierung der Wahl aufgerufen.

Da gab es natürlich auch so verschiedene Meinungen, gehen wir oder gehen wir nicht. Die Islamisten haben gesagt, wir gehen, denn man geht davon aus, es gibt jetzt eine Koalition beinahe zwischen Religion, Militär und Wirtschaft gegen diese liberalen Kräfte. Aber trotzdem – und das finde ich sehr richtig – sind die Ägypter auf die Straße gegangen und wählen heute. Aber wie Sie sagen, diese Schlange, es gibt Schlangen und das ist kein gutes Zeichen. Denn wir haben in Ägypten sehr wenige Lokale und sehr viele Wähler. Und das heißt auch, wenn die Leute, die Ägypter auf die Straße gehen, um zu wählen, heißt das nicht, dass alle zur Urne kommen können.

Führer: Wenn ich Sie recht verstehe, Frau Salah, dann sind Sie eher der Ansicht der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, die ja gesagt haben, erst muss der Militärrat zurücktreten und dann wollen wir Wahlen abhalten?

Salah: Wie können Sie das selbst auch bewerten, dass vor zwei Tagen gerade auf einmal ein Gesetz oder eine Erklärung von der Armee kommt, dass diese Ergebnisse der Wahl, dieses neu gegründete Parlament nicht die Regierung gründen kann und den Ministerpräsidenten? Das heißt eigentlich, sie haben momentan auch nicht viel Macht. Sondern das Militär hat jetzt Ganzouri gerufen, dass er der Ministerpräsident ist, und er soll ohne die Frage der Bevölkerung neue Minister berufen. Und das Parlament, dieses neu gewählte Parlament kann nicht entscheiden, wer Ägypten regiert.

Führer: Aber das neu gewählte Parlament soll eine Verfassung ausarbeiten, das ist ja auch, glaube ich, die vornehmste Aufgabe des Parlaments. Und hier hört man jetzt immerzu, gut, wir berichten viel über die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, aber sie stehen offenbar nicht für die Mehrheit der Ägypter. Man vermutet, ich weiß nicht, wie ist Ihre Einschätzung, dass die Muslimbrüder diese Wahlen gewinnen werden?

Salah: Eigentlich sagen die meisten Umfragen auch vorher, bevor es auch diese Unruhen auf dem Tahrir-Platz gab, dass die Muslimbrüder ungefähr zwischen 20 bis 30 Prozent gewinnen werden. Und das heißt, wir selbst überbewerten auch immer sehr oder überschätzen sehr diese Rolle der Islamisten, aber sogar in Tunesien haben sie auch nicht die Mehrheit gewonnen. Sie waren auch weniger als 40 Prozent. Auf jeden Fall können die Muslimbrüder gewinnen, aber wir wissen auch nicht, wie ist jetzt das Verhältnis auf den Dörfern? Denn dort gibt es richtige, oder in der Peripherie Ägyptens, da gibt es sehr viele Feudalsysteme, dort haben auch die Muslimbrüder selbst keinen Zugriff, sondern die Menschen vom alten System. Und was jetzt, die meisten Menschen in Ägypten oder die Aktivisten waren dagegen, weil sie eine richtige Reform für das Wahlsystem wollten. Aber jetzt diese, was wir heute führen, da können Sie sagen, mal schauen, okay, das wird nicht 100-prozentig gut, aber wir gehen trotzdem und wir nutzen die Chance wie möglich.

Führer: Die ersten Parlamentswahlen in Ägypten seit dem Sturz Hosni Mubaraks sind unser Thema hier im Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Hoda Salah. Frau Salah, als Sie im Februar schon einmal zu Gast im "Radiofeuilleton" waren, also, das war unmittelbar zu Zeiten der Revolution, da haben Sie uns erläutert, dass viele Frauen in Ägypten hohe Führungspositionen bekleiden, mehr sogar als in Deutschland in manchen Berufen, zum Beispiel, was die Professoren angeht. Was meinen Sie, würde ein Wahlsieg oder ein großer Erfolg der Muslimbrüder bei dieser Wahl die Rechte der Frauen wieder einschränken?

Salah: Ja, auf jeden Fall. Denn das ist … Ich forsche eigentlich über die Muslimbrüder seit zehn Jahren und ich kam hier zu dem Ergebnis: Die Muslimbrüder werden die Frauenrechte in der Öffentlichkeit unterstützen, das heißt, sie werden sagen, Frauen müssen partizipieren, und sie profitieren davon, weil Frauen die Muslimbrüder wählen werden oder sie werden ihre Kandidaten sein in der Wahl. Aber das Problem bei den Muslimbrüdern, und das ist nicht gelöst, ist, wie ist das im Privatrecht? Und wir haben gesehen, dass Ägypten vor der Revolution auch viele internationale Konventionen für Frauenrechte wie zum Beispiel CEDO unterschrieben und auch mit geschrieben hat, und jetzt werden sie infrage gestellt.

Das heißt, sogar internationale Konventionen, die Ägypten verpflichten, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau im Privaten und in der Öffentlichkeit zu garantieren, werden jetzt bestritten von vielen Islamisten. Und sie meinen, das war ein Teil des alten Systems. Das heißt, ich denke, auf jeden Fall werden die Muslimbrüder versuchen, wirtschaftliche Errungenschaften, vielleicht auch politische Rechte für Menschen wirklich zu garantieren, kann ich mir vorstellen, aber nicht das Privatrecht, nicht die Kunstszene, nicht diese individuelle Freiheit, was wir davon erträumen. Das wird sehr kontrolliert.

Führer: Es war ja möglicherweise ohnehin, nur für eine Elite galt diese Gleichberechtigung, also diese hohe Repräsentanz von Professorinnen zum Beispiel. Mich hat, ja, wie soll man sagen, irritiert … Also, es gab mehrere Meldungen in den vergangenen Tagen, dass ausländische Reporterinnen schwerst, ja, wie soll man sagen, sexuell angegriffen worden sind von dem Mob auf der Straße, ihnen die Kleider vom Land gerissen worden sind, betatscht worden, wenn nicht noch Schlimmeres, sodass diese Organisation, die Organisation Reporter ohne Grenzen jetzt tatsächlich davon abrät, Journalistinnen nach Ägypten zu schicken.

Salah: Das finde ich schade. Weil, dann akzeptiert man auch die Situation. Nein, natürlich, was sehr wichtig ist und wovon ich finde, vielleicht ist es was Gutes in dieser Revolution auch für die Frauen: Vorher gab es diese Angriffe gegen Frauen auch, das ist nicht neu, auch vor der Revolution. Aber wozu diese Revolution geführt hat, ist, dass Frauen sich nicht schämen, vergewaltigt zu werden, sondern sagen, ich wurde vergewaltigt, ich wurde angetatscht, ich wurde das und das. Und zum Beispiel viele Journalistinnen, übrigens nicht nur ausländische, die Mehrheit, die belästigt worden sind und diese Jungferntests, die waren Ägypterinnen. Das heißt, die Leidenden, das sind die Ägypterinnen.

Aber der Wandel in dieser Revolution ist, dass Frauen in die Öffentlichkeit kommen und sagen, zum Beispiel, ich sage das ganz offen: Der Polizist hat seine Hand in meine Unterhose! Und diese Sprache, die war vorher ein Tabu, man hat sich geschämt. Und jetzt, wissen Sie, was auch noch ein Tabuthema ist: Natürlich reden wir über Frauen, aber Männer, Männer werden auch vergewaltigt. Und jetzt reden auch viele Männer darüber. Das ist was, vielleicht noch einmal, weil ich sehr skeptisch am Anfang war, das ist vielleicht meine Hoffnung für diese Revolution ist: Es gibt einen Wandel gegen diese alte Moral, diese alte Mentalität und auch wirklich den Versuch, das ganze autoritäre System zu stürzen. Und das ist, vielleicht wird das auf lange Sicht erreicht.

Führer: Wenn wir noch mal auf die Islamisten gucken, Frau Salah: Also, in Tunesien – nun, Sie sagen, sie haben nicht die absolute Mehrheit gewonnen, aber es ist doch die stärkste Partei geworden mit 40 Prozent, in Ägypten deutet sich das zumindest an –, kann es nicht sein, dass vielleicht das Volk sich gar nicht so sehr am Westen orientiert, das war eher die Elite, sondern das Volk sich eher an den traditionellen, eigenen Werten orientieren will, also an den eigenen Traditionen?

Salah: Ich sage Ihnen, das ist vielleicht mein großes Anliegen und Ziel für meine Arbeit: Nein, nein, nein! Wenn ich vielleicht eine westliche Frau wäre, hätte ich vielleicht gesagt, ja, wissen Sie, man muss die Kultur respektieren. Ich glaube, wir alle vergessen, dass Ägypten und die meisten arabischen Länder säkulare Verfassungen haben. Das heißt, diese Islamisierung oder auch Christianisierung – wir vergessen immer, es gibt auch christliche Fundamentalisten, auch in der arabischen Welt –, das ist ein Ergebnis von diesen autoritären Systemen, die ihr Aufblühen in den 90er-Jahren hatten. Aber wenn Sie die Geschichte von den meisten arabischen Ländern nehmen, nicht nur Ägypten, dann war das eine säkulare öffentliche.

Und ich warne wirklich sehr vor diesem Begriff, das ist westlich. Denn Menschenrechte sind nicht westlich, das ist global. Die Kleider, die Frauen tragen, ist nicht westlich, das ist, auch Jeanshose, ich kann das nicht glauben, dass das nur westlich ist. Das heißt, ich denke, sehr wichtig ist, dass wir uns bewusst sind, wir leben in einer globalen Welt und wir teilen in dieser Weltgesellschaft globale Werte. Und das ist nicht westlich. Das heißt, ich … In Ägypten sagt man nicht westlich, aber viele sagen, ah, die Leute wollen sich distanzieren vom Westen. – Auf keinen Fall! Was die Leute vielleicht distanziert vom Westen, ist diese Kritik am Waffenhandel, an dieser Doppelmoral des Westens mit diesem Waffenhandel und dann, ah, wir wollen Demokratie. Das ist vielleicht die Abgrenzung, was auch Liberale machen und nicht nur Islamisten.

Führer: Also, wenn ich Sie recht verstehe, dann befürchten Sie, dass ein Wahlsieg der Islamisten, dass sie zumindest versuchen könnten, die Frauenrechte wieder einzuschränken, aber Sie hoffen, dass die Revolution die Zivilgesellschaft so weit gestärkt hat, dass das nicht …

Salah: … und auf die Ausdauer der Menschen auf dem Tahrir-Platz … Die Führer dieser Revolution waren bestimmt gläubige Christen und Muslime, aber für sie war nicht die Religion ihre Agenda für einen Verfassungsstaat. Und diese Wahl, die wird uns zeigen, wer gewinnt: Gewinnt jetzt die Macht des Militärs, das ist Gewalt mit Wirtschaft, korrupter Wirtschaft und Religion, das ist fundamentalistischer Religion? Oder gewinnen jetzt die Menschen, die gerne einen zivilen Staat möchten, einen zivilen Staat jenseits der Religion und des Militärs?

Führer: Das war die Politikwissenschaftlerin Hoda Salah, herzlichen Dank für Ihren Besuch, Frau Salah!

Salah: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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