"Eine Politisierung der Zeitgeschichte halte ich für ein Gift"

Andreas Wirsching im Gespräch mit Frank Meyer · 31.03.2011
"Das IfZ unter meiner Leitung ist politisch ungebunden", sagt der Historiker Andreas Wirsching, der am Freitag die Leitung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) übernimmt. "Eine Politisierung der Zeitgeschichte halte ich für ein Gift." Allerdings wäre es naiv zu glauben, man könne Zeitgeschichte "rein im Elfenbeinturm betreiben".
Frank Meyer: Im Jahr 1949 wurde das Münchener Institut für Zeitgeschichte gegründet, auch auf Initiative der Alliierten, die die Deutschen dazu bringen wollten, sich ihrer Nazivergangenheit zu stellen. Die Erforschung der NS-Geschichte wurde das große Thema dieses Instituts, und das in einer Zeit, als anderswo in der jungen Bundesrepublik munter verdrängt wurde. Heute ist die Situation eine ganz andere: Es gibt eine breite NS-Geschichtsforschung. Was heißt das nun für das Institut für Zeitgeschichte? Der Frage muss sich der neue Direktor des IfZ stellen – nach fast 20 Jahren wird der Historiker Horst Möller morgen abgelöst durch seinen Kollegen Andreas Wirsching, und der ist jetzt für uns am Telefon. Seien Sie herzlich willkommen!

Andreas Wirsching: Herzlich willkommen auch, vielen Dank!

Meyer: Herr Wirsching, wie sehen Sie das denn, ist die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte noch die wichtigste Aufgabe für das Institut?

Wirsching: Es ist eine zentral wichtige Aufgabe für das Institut, wie überhaupt für die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland und auch die interessierte wissenschaftliche Öffentlichkeit und politische Öffentlichkeit. Allerdings gehört die Forschung über den Nationalsozialismus nicht mehr exklusiv dem Institut für Zeitgeschichte, und das Institut für Zeitgeschichte hat sein Forschungsspektrum deutlich erweitert.

Meyer: Gibt es denn noch bedeutende Themen in der NS-Geschichte, bei denen Sie sagen, die müssten wir angehen in nächster Zeit?

Wirsching: Es gibt auf der einen Seite natürlich das Problem, dass über die NS-Forschung bereits sehr viel gemacht worden ist, das heißt, es ist nicht ganz einfach, neue Projekte so aus dem Ärmel zu schütteln. Andererseits gibt es eine ganze Reihe von sehr zentralen Fragen, die noch zu wenig bearbeitet sind. Ich würde nur mal als Beispiel sagen die Verwaltungsgeschichte, und zwar nicht nur die Verwaltungsgeschichte im sogenannten Altreich, sondern eben auch in den besetzten Gebieten. Es ist zwar in den letzten Jahren eine ganze Reihe gemacht worden, das ist aber noch ein nach wie vor sehr aktuelles offenes Feld, wenn man auch bedenkt, dass ja ein Großteil der Deutschen einfach mit dem NS-Regime als Verwaltungsapparat in Kontakt gekommen ist.

Meyer: Erklären Sie kurz, was heißt genau in dem Sinne jetzt Verwaltung?

Wirsching: Verwaltung heißt nicht nur die sogenannte Maßnahmenverwaltung, also das NS-Regime als Unrechtsregime, das Verfolgungsmaßnahmen durchgeführt hat, sondern auch die ganz normale Verwaltung, wie zum Beispiel die kommunale Verwaltung, die Ministerialverwaltung, die Ministerien fangen an, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Also auch die normale aus der Weimarer Republik überkommene Verwaltung, die zu einem nicht unerheblichen Teil nazifiziert wird, ist die Verwaltung, die auch untersucht werden muss.

Meyer: Sie haben auch schon Projekte angekündigt, die in eine ganz andere Richtung schauen, zumindest auf den ersten Blick. Sie haben zum Beispiel gesagt, Sie würden gerne eine Analyse des Wandels der Wissensgesellschaft anstoßen, und dazu haben Sie gesagt: Beim Blick auf die Bildungspolitik der neueren Zeit würden Sie ab und an kulturpessimistische Anwandlungen ereilen. Warum das denn?

Wirsching: Na ja, um die letzte Frage aufzunehmen, das hängt natürlich mit meinem Standort zusammen, im universitären Bereich. Wir haben eine große Debatte über die Bologna-Reform in den letzten Jahren gehabt, und da ist es manchmal nicht ganz einfach, gerade als Geisteswissenschaftler, sich kulturpessimistischen Anwandlungen zu erwehren.

Meyer: Weil Sie sich an den Rand gedrängt fühlen als Geisteswissenschaftler?

Wirsching: Das würde ich nicht unbedingt sagen. Das war in den 90er-Jahren stärker, nach meiner Wahrnehmung. Ich finde, dass die Geisteswissenschaften sich in den letzten Jahren schon auch wieder zu Wort gemeldet haben, auch gestützt werden, das muss man ganz klar sagen. Nein, was mir persönlich zu schaffen macht, ist schon dieser Bürokratisierungsdruck, der durch die neuen Studiengänge entsteht. Aber das ist natürlich Teil einer großen Modernisierungsstrategie, die zum größten Teil von der Europäischen Union auch ausgeht. Die Europäische Union will ja Europa zum dynamischsten, wachstumsstärksten wissensbasierten Wirtschaftsraum weltweit machen, und da spielt natürlich Bildung eine ganz entscheidende Rolle.

Meyer: Hätten Sie denn die Hoffnung, mit Ihrer Analyse auch so etwas wie bildungspolitische Anstöße zu geben?

Wirsching: Als Nebeneffekt schon. Ich meine, ich sehe jetzt nicht die Aufgabe auch eines Forschungsinstituts, kurzfristige Wortmeldungen zur aktuellen bildungspolitischen Situation etwa durchzuführen, aber wenn es gelänge, die Genese dieses Konzepts der Wissensgesellschaft, die sich bis in die 60er- und vor allem 70er-Jahre zurückverfolgen lässt, einer substanziellen zeithistorischen Untersuchung zu unterwerfen, dann entsteht dadurch ein kritisches Potenzial, das dann auch in aktuelle Debatten eingeführt werden kann.

Meyer: Sie haben ein zweites Großprojekt angekündigt für Ihr Institut unter Ihrer Leitung, da soll es darum gehen, wie Hoffnungen und Erwartungen nach großen historischen Zäsuren in Enttäuschung umschlagen. Leben wir denn heute in einer Phase der politischen Enttäuschung?

Wirsching: Wenn man die Frage bejaht – dafür spricht sehr viel –, dann muss man natürlich gleichzeitig erklären, was diese Enttäuschung ausgemacht hat, und das wäre in einer historischen Perspektive genau das Anliegen einer solchen Projektperspektive. Man neigt ja schon im Alltagsleben, aber eben auch im politischen Leben sehr stark dazu, Schwierigkeiten, Spannungen, Probleme und eben auch Enttäuschungen auf Verhaltensweisen beteiligter Personen oder auch Institutionen zurückzuführen. Also man liest in diese Enttäuschungsprozesse einen intentionalen beabsichtigten Strang hinein, der aber wahrscheinlich eine optische Täuschung ist. Ich meine, die Moderne ist so pluralistisch, dass einheitliche Willensäußerungen und Entscheidungen, mit denen dann auch alle übereinstimmen, gar nicht möglich sind. Das heißt also, es gibt Dissonanzen, notwendig, zwischen politischer Willensbildung und Erwartungshorizonten, die zu Enttäuschungen führen. Die Frage ist jetzt, wie gehen Demokratien mit solchen Enttäuschungspotenzialen und Enttäuschungserfahrungen um, die sich zum Beispiel niederschlagen in Wahlergebnissen oder auch …

Meyer: Enttäuschungen können ja auch zu Radikalisierung führen, wenn man an die Geschichte der Weimarer Republik denkt. Ist das auch ein Hintergrund für dieses Projekt?

Wirsching: Auf jeden Fall. Ich hab mich ja relativ intensiv mit der Revolution 1918/19 auseinandergesetzt, wo in der Tat dieses Enttäuschungsmotiv ein entscheidendes Antriebselement auch für sowohl Radikalisierung als auch Rückzug ist. Ich meine, die Folgen von Enttäuschungen können Radikalisierungsprozesse sein, aber es kann auch in Apathie, in Rückzug, geradezu in Zynismus sich ausdrücken. Also das kann man dann im Einzelfall sehen und erforschen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Historiker Andreas Wirsching. Ab morgen wird er der neue Direktor des Instituts für Zeitgeschichte sein. Und wir wollten mit Ihnen auch über Ihre Institution selbst reden und die öffentliche Rolle dieser Institution. Ihr Vorgänger Horst Möller, der hatte so den Ruf, ein Vertrauter von Bundeskanzler Helmut Kohl zu sein und für eine eher konservative Ausrichtung des Instituts für Zeitgeschichte zu stehen. Ist es Ihnen ein Anliegen, Ihr Institut von diesem Ruf zu befreien?

Wirsching: Die Frage ist, inwieweit der Ruf berechtigt ist, da kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Das Institut als solches ist in hohem Maße pluralistisch. Wenn man an die Mitarbeiter denkt, findet man dort eine sehr bunte Vielfalt an Orientierung. Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass man schon sehr stark unterscheiden muss zwischen Zeitgeschichte als Wissenschaft und politischen Wortmeldungen. Ich würde zunächst einmal sehr stark darauf zu achten versuchen, beides zu trennen. Eine Politisierung der Zeitgeschichte halte ich für ein Gift, was aber nicht heißt – da wäre man naiv, wenn man jetzt sagen würde, Zeitgeschichte kann man rein im Elfenbeinturm betreiben und es gibt hier keine Interferenzen mit aktuellen politischen Fragen. Aber das muss sekundär bleiben. Insofern würde ich schon sagen, das Institut für Zeitgeschichte unter meiner Leitung ist politisch ungebunden.

Meyer: Das Institut für Zeitgeschichte steht ja heute in einer sehr stark veränderten Forschungslandschaft, was die Geschichtsforschung angeht. Als großes Thema ist natürlich die DDR-Geschichte dazugekommen nach 1989. Nun gibt es da starke Konkurrenz inzwischen, zum Beispiel das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, dann gibt es auch noch den Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Wie sehen Sie da Ihr Institut im Verhältnis zu diesen anderen? Sind das Ihre Konkurrenten, sind das zukünftige Kooperationspartner?

Wirsching: Eine gewisse Konkurrenz, die sich diskursiv vermittelt, schließt sich mit den Kooperationen überhaupt nicht aus. Ich persönlich sehe das völlig entspannt. Zeithistorische Forschung ist wie jede Forschung ein stark arbeitsteiliger Prozess, und es wäre auch völlig sachinadäquat, jetzt zu sagen, also ein Großthema wie die DDR-Geschichte, die ja in ihrem Kontext mit der deutschen und europäischen Geschichte sowieso behandelt werden sollte – mehr, als das bisher der Fall ist –, wäre monopolisierbar von der einen oder anderen Institution. Also hier brauchen wir auch Pluralismus, und der ist gewährleistet. Was jetzt die beiden von Ihnen genannten Institutionen betrifft, so finden hier durchaus Kooperationen vor allem im Berliner, Potsdamer Umfeld statt, auch mit der Stiftung Aufarbeitung. Für die Zukunft muss man sehen, wo sich Kooperationsmöglichkeiten ergeben.

Meyer: Heißt Pluralismus auch, dass Sie für verschiedene Ansätze stehen, für verschiedene geschichtspolitische Ansätze, auch im Umgang mit der DDR-Vergangenheit?

Wirsching: Der Kern der Debatte, um die es da nach meiner Wahrnehmung geht, ist die Frage, wie weit die DDR-Geschichte in eine normative Distanz gesetzt werden soll und muss zu einem demokratischen Grundkonsens.

Meyer: Also die Frage Unrechtsstaat oder nicht Unrechtsstaat im Prinzip.

Wirsching: Genau. Also der Vorwurf lautet ja dann, eine Alters- oder Kultur- oder Erfahrungsgeschichte der DDR würde sozusagen die DDR weichspülen als Unrechtsstaat. Ich persönlich hab da ein eher entspanntes Verhältnis. Ich glaube nicht, dass es Aufgabe einer wissenschaftlichen Zeitgeschichte ist, jetzt immer wieder den Akzent ausschließlich darauf zu setzen. Ich glaube, dass es gar keine große Differenz gibt zwischen seriösen Zeithistorikern, dass natürlich die DDR eine sozialistische Diktatur, eine Parteidiktatur gewesen ist. Da kann man auf einem Konsens aufbauen, von dem aus man dann in der Tat verfeinerte Fragestellungen zum Thema Herrschaft und Gesellschaft und Kultur entwickeln kann und auch sollte.

Meyer: All diese Fragen werden den Historiker Andreas Wirsching ab morgen besonders beschäftigen. Morgen tritt er sein neues Amt an als Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München. Herr Wirsching, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Wirsching: Vielen Dank, Herr Meyer!