Eine Palette des Grauens

09.07.2008
Der Düsseldorfer Psychiater Theo Payk befasst sich von Berufs wegen mit Gewalt und Aggression. Er präsentiert in seinem Buch "Das Böse in uns" einen gangbaren Weg, im Umgang damit zwischen Erscheinungsformen, die für steuerndes Eingreifen offen stehen, und solchen, bei denen menschliche Möglichkeiten an ihr Ende kommen, zu unterscheiden.
Immer wieder tauchen Fälle in der Kriminalstatistik auf, die über gewöhnliches Verbrechen hinausgehen und nur noch mit dem Begriff des Bösen zu fassen scheinen. Verstörende Verbrechen, die nicht im Bereich des Vorstellbaren zu liegen scheinen und bei denen jeder Erklärungsversuch scheitert – jüngstes Beispiel ist der Inzestfall im österreichischen Amstetten, wo ein Vater seine Tochter über 24 Jahre im eigenen Keller einsperrte, sie wiederholt vergewaltigte und mehrere Kinder mit ihr zeugte. Doch "böse" ist so schillernd wie die Vorfälle, die darunter fallen oder zu fallen scheinen. Nicht zuletzt Philosophie und Theologie bemühen sich seit Menschengedenken, einem Verständnis näher zu kommen.

Theo Payk befasst sich von Berufs wegen mit dem Bösen: Er arbeitet in Düsseldorf als Psychiater und hat immer wieder auch forensische Gutachten verfasst. Eigentlich scheint er sich mit seinem Buch über "Das Böse in uns" mit einem hoffnungslosen Fall zu beschäftigen: "Sinn und Funktion des Bösen zu erhellen, übersteigt vollends das Erkenntnisvermögen all derer, die sich mit dem Verweis auf Gottes unerforschlichen Ratschluss nicht abfinden mögen", heißt es schon im Vorwort.

Und so beginnt er sein Buch mit einem leicht kurzatmigen, aber doch stringenten Durchgang durch all die Deutungsmuster, die Philosophen und Vertreter vor allem der monotheistischen Religionen über die Jahrhunderte angeboten haben – um schließlich beim einzigen Punkt anzukommen, an dem das abstrakte Böse überhaupt fassbar wird: beim bösen Verhalten. Einzelne Menschen oder auch Kollektive sind zu schier Unglaublichem fähig – Payk entfaltet die ganze Palette des Grauens.

Böses Verhalten ist kaum erklärbar, schon gar nicht weg-erklärbar. Ausdrucksform bösen Handelns sind Gewalt und Aggression. Diese gehören zu den Grundmustern des Verhaltens überhaupt und sind von daher nicht aus der Welt zu schaffen. Unter Tieren und in den frühesten menschlichen Gemeinschaften hielt sich die – durchaus für die Gemeinschaft profitable – Aggression allerdings die Waage mit gemeinschaftserhaltenden Ritualen, so Payk. Böses Verhalten existierte, aber war kein Problem. Denn es passierte innerhalb eines stabilen Rahmens.

Erst Zivilisation und die rasante Entwicklung menschlicher Möglichkeiten stellen quasi den Sündenfall in Bezug auf das Böse dar (und nicht etwa den Beginn des ernsthaften Kampfes dagegen). Denn durch sie ist es dem Individuum möglich, egoistische und eben auch böse Interessen zu verfolgen, ohne durch Gruppendruck zurechtgewiesen zu werden, wenn die Grenze zum Lebensfeindlichen überschritten wird. Zivilisation ermöglicht also das Böse – und ist trotzdem auch, nach dem nicht mehr ungeschehen zu machenden Sündenfall, die einzige Möglichkeit, sich dem bösen Verhalten entgegenzustemmen: durch funktionierende Gemeinschaft, durch Verantwortlichkeit des Einzelnen.

Theo Payk spricht für eine sehr bürgerliche Ordentlichkeit – gegen die Ekstase des Himmlischen ebenso wie des Teuflischen. Und doch ahnt er, dass ein Rest des Irrationalen in Gestalt des bösen Verhaltens bleibt, der weder von der Neurobiologie aufgeklärt noch vom besten sozialen Netz aufgefangen werden kann. Ein Paradox, das selber fast schon wieder philosophisch-theologische Züge annimmt.

In seinem Buch kommt er einer Erklärung vielleicht nicht so nahe, wie es der Untertitel ("Über die Ursachen von Mord, Terror und Gewalt") verspricht. Aber er präsentiert einen durchaus gangbaren Weg, im Umgang mit dem Bösen zu unterscheiden zwischen Erscheinungsformen, die für steuerndes Eingreifen offen stehen, und solchen, bei denen zumindest menschliche Möglichkeiten an ihr Ende kommen.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Theo Payk: Das Böse in uns. Über die Ursachen von Mord, Terror und Gewalt.
Patmos 2008, 246 S., 19,90 Euro