Eine Nachtschwester für 36 Patienten

19.06.2013
Schwerstkranke liegen stundenlang in ihren Ausscheidungen, wimmern um Hilfe, die ihnen niemand gewährt, weil die Nachtschwester völlig überlastet ist: Die Fernsehjournalistin Sonia Mikich schildert grausam-anschaulich die Missstände im Gesundheitswesen. Und das Ende ihres Buches ist umso bitterer.
Die orthopädische Klinik operiert Patienten erst, wenn nach gründlicher Diagnose konservative Therapien und Krankengymnastik nicht helfen. Die Kosten für die Allgemeinheit sinken, das Patienten-Wohlergehen steigt - und die fiktive Klinik macht pleite, denn sie passt nicht ins Gesundheitssystem.

"Enteignet. Warum uns der Medizinbetrieb krank macht" heißt programmatisch das neue Buch der Fernsehjournalistin Sonia Mikich, eine wütende Anklage, die man im Tonfall mitunter gern eine Nummer leiser hätte – doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Auftakt und Anlass des Buches bildet eine persönliche Erfahrung: Mit diffusen Bauchschmerzen wird Sonia Mikich im Sommer 2011 in ein Krankenhaus eingeliefert und gerät in einen Strudel aus Diagnosen, Operationen, Bevormundung, künstlichem Darmausgang, totaler Entkräftung und Kontrollverlust – ihren "persönlichen Ground Zero", wie sie es nennt. Am Ende wiegt sie 13 Kilo weniger und muss erfahren: Alles Leiden hätte ihr erspart werden können, wenn der behandelnde Arzt den histologischen Befund abgewartet und danach Routine-Medikamente eingesetzt hätte.

Sonia Mikich sucht den Fehler im System. Gemeinsam mit ihren Koautoren beleuchtet sie in gut recherchierten Aufsätzen politische und wirtschaftliche Hintergründe der Gesundheitsreformen und führt Interviews mit Patienten, Ärztinnen, Krankenhaus-Aussteigern und Medizinanwälten. Manche Information ist bekannt: Dass die rot-grüne Bundesregierung unter Gesundheitsministerin Andrea Fischer die Krankenhäuser mit dem neuen System der Fallpauschalen in einen ruinösen Verdrängungskampf schickte, der mit immer neuen Rationalisierungen auf dem Rücken von Nachwuchsmedizinern, Pflegepersonal und Patienten ausgetragen wird.

Die Stärke des Buches allerdings liegt darin, solche politischen Abstrakta in grausam-anschauliche Geschichten zu verwandeln: 36 Patienten versorgt eine Krankenpflegerin in der Nacht, fünf davon sind mit Keimen verseucht – so, dass sie sich jedes Mal komplett umziehen muss, bevor sie die isolierten Krankenzimmer betritt und verlässt. Wer will das schaffen? Alte und Schwerstkranke liegen stundenlang in ihren Ausscheidungen, flehen weinend um Hilfe, die niemand gewährt, werden mit Schlafmitteln ruhig gestellt und bei Schluckbeschwerden künstlich ernährt. Junge Mediziner werden genötigt, sich in der totalen Hierarchie des Krankenhaussystems jahrelang hoch zu dienen, bis Fühllosigkeit Teil ihrer täglichen Routine geworden ist.

Die Zustände, die das Buch schildert, treiben einem Menschen mit durchschnittlichem Empathie-Level Tränen in die Augen, doch Sonia Mikich besitzt Bodenhaftung genug für nüchterne Reformvorschläge. Kein entfesselter Wettbewerb, sondern die Politik müsse die Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland auf ein sinnvolles Maß begrenzen, fordert sie - und dafür brauche es ernsthaften politischen Druck. Denn die nächste "Reform"-Runde steht schon bevor, endet das Buch bitter: Das Fallpauschalen-System, humanitär und volkswirtschaftlich gescheitert, soll auf die Psychiatrie ausgeweitet werden.

Besprochen von Susanne Billig

Sonia Mikich: Enteignet. Warum uns der Medizinbetrieb krank macht
Koautoren: Ursel Sieber und Jan Schmitt
Bertelsmann Verlag, München 2013
352 Seiten, 19,99 Euro
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