Eine Liebeserklärung und ein Abschied

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 28.01.2013
Der Regisseur David Sieveking erzählt in "Vergiss mein nicht" mit Trauer und Humor von der Alzheimer-Erkrankung seiner Mutter. Der Film, der am Donnerstag in die Kinos kommt, hält die schwierige Balance zwischen eigener emotionaler Betroffenheit und dokumentarischer Beobachtung.
"Wenn ich früher meine Eltern besuchte, hatte meine Mutter immer mein Lieblingsessen vorbereitet."

Erinnerungen an glückliche Zeiten. Wir sehen die freundliche weißhaarige Frau mit dem Kochlöffel am Herd. Wir sehen dann, wie ein Familienfoto entsteht, mit den Eltern, der Schwester und ihren Kindern. Aber irgendetwas stimmt nicht an diesen Bildern harmonischen Familienlebens:

"Irgendwann fielen mir all die Merkzettel meiner Mutter auf und dann an Heiligabend gab es nur Suppe. Zur Bescherung bekam ich gar kein Geschenk von ihr ..."

Fast heiter und beiläufig führt David Sieveking den Zuschauer in seine Familie ein und auch in ihre schweren Probleme: Seine Mutter Gretel leidet an schwerer Demenz, der Vater ist der neuen Situation kaum gewachsen.

So zieht der Sohn mit seinem Kameramann für einige Monate zurück in sein Elternhaus im hessischen Bad Homburg. Bei Krankheit und Pflege, bei Gretels Leben mit der Demenz, wird der Filmemacher selbst zum Protagonisten.

David Sieveking: "Ich kann meine Sicht der Dinge einfacher einbringen, wenn ich vor der Kamera auftauche und so kann ich eine natürliche Situation erzählen zum Beispiel zuhause. Wenn ich nicht vor der Kamera bin und meine Mutter zeige, ist das sehr unnatürlich, denn die würde immer versuchen mit mir, ihrem Sohn in Kontakt zu treten. Ich kann ja nicht meine Mutter pflegen und hinter der Kamera stehen."

"Vergiss mein nicht" hält die schwierige Balance zwischen eigener emotionaler Betroffenheit und dokumentarischer Beobachtung. Über Bilder, Filmaufnahmen und über Erinnerungen des Vaters, der Schwester und alter Freunde rekonstruiert der Sohn die Vergangenheit und latente Konflikte seiner Familie.

Seine Eltern Gretel und Malte, ein Ehepaar aus der 68er-Generation, waren immer politisch engagiert, intellektuell aufgeschlossen. Die Demenz verändert auch die Kommunikation im sehr rational analytischen Elternhaus:

David Sieveking: "Und dadurch, dass meine Mutter, die ja einfach sehr Gesprächs orientiert war, dass sie die Fähigkeit verloren hat, sich in Worten auszudrücken, war eben tragisch und schmerzlich, aber sie hat uns dann eben eine andere Weise gezeigt, wie man sich ausdrückt.

Und das war sehr beeindruckend, weil sie sehr direkt wurde, sehr deutlich und Zuneigung eben auch körperlich mal eingefordert hat, ich meine jetzt nicht im vulgären Sinne, sondern einfach, dass man sich umarmt, dass man sich streichelt und sagt: Ach das ist aber schön. Und das ist ja eine Schule, die nicht nur für Demenzerkrankte gesund ist, wenn man das erlebt und wenn man das auch zulässt in seinem eigenen Leben."

Der Film erzählt auch vom Rollenwechsel in der Familie. Die früher beschützende Mutter muss jetzt selbst gepflegt und behütet werden, der versorgte Sohn übernimmt die Versorgung.

Immer wieder sind wunderbare, fast befreiende Momente abseits der Tragödie zu sehen, alltägliche Momentaufnahmen von Gretel und ihrer Familie, eine zärtliche Nähe ungeachtet des Verlustes aller geistigen Fähigkeiten.

David Sieveking: "Weil wir bis zuletzt, - wir mögen alle möglichen Fähigkeiten verloren haben, unsern Geschmacks-, Geruchsinn, unseren Orientierungssinn - unseren Sinn für Empathie und unsere Fähigkeit, auch Gefühle zu zeigen, bleibt eigentlich bis zum letzten Atemzug da. Also auf jeden Fall war das die Erfahrung mit meiner Mutter."

"Vergiss mein nicht" ist eine Liebeserklärung an die eigene Mutter, ein Abschied, der aber nie bitter wird. Eigentlich sollte die Mutter das fertige Werk noch sehen, aber die Krankheit war schneller.

David Sieveking: "Aber während ich in den letzen Zügen war, in der Postproduktion des Films, stellte sich heraus, dass meine Mutter, dass es dramatisch bergab geht mit ihr. Dann habe ich den Film auf Eis gelegt und hab mich um sie gekümmert, bin nach Hause gefahren und es war deutlich:

Ich kann jetzt nicht drehen, wie sie auf der Intensivstation liegt, ich bin viel zu sehr eingebunden und finde, es ist keine Situation, die ich erträglich fand mit einem Kamerateam und insofern war ich froh, dass ich ein Buch schreiben konnte, wo ich diese Erfahrungen einbringen konnte, auch sehr drastische Erfahrungen, die man eigentlich einem Kinozuschauer nicht zumuten kann."

<im_62801>"Vergissmeinnicht" NUR FILMSTART</im_62801>David Sieveking hat in seinem Buch vieles ergänzt, die endlose und deprimierende Odyssee durch Intensiv- und Wachstationen, den Kampf gegen den körperlichen Zerfall. Der Film lässt das Ende offen, das Buch beginnt mit dem Tod.

David Sieveking: "Der Film hat einen anderen Schwerpunkt als das Buch. Im Buch geht es viel mehr um diese Symptome, medizinische Aspekte.

Ich erzähle ja auch diesen jahrelangen schleichenden Prozess bis zur Demenzdiagnose und der Film ist im Grunde genommen von ganz allein ein Liebesfilm geworden, in dem eben eine Protagonistin ihr Gedächtnis verliert, vielmehr als ein Krankheitsfilm oder eine Bestandsaufnahme zum Thema Alzheimer."

Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen zum Thema Alzheimer vermittelt "Vergiss mein nicht" Lust zu leben. Das Porträt einer Familie im "Pflegenotstand" zeigt auch eine Wandlung, von Verzweiflung und zornigem Aktivismus hin zu einer liebevollen, fast heitere Gelassenheit im Umgang mit Krankheit, Verfall und Tod.