Eine Lange Nacht über das Ruhrgebiet

Tief im Westen

Braunkohle-Kraftwerk in Nordrhein-Westfalen
Die Zeit der Steinkohle ist im Ruhrgebiet vorbei © Deutschlandradio/Jörg Stroisch
Von Jörg Stroisch · 01.04.2017
Gib mal den Mottek - im Ruhrgebiet mit seinen fünf Millionen Menschen weiß jeder, dass damit der große Hammer gemeint ist. Jahrzehntelang haben Bergbau und Stahlindustrie das Arbeitsleben bestimmt. Die Ansprache ist direkt und ohne Umschweife, manchmal schroff, dann aber auch überraschend sensibel. Und wofür steht der Begriff Gelsenkirchener Barock?
Diese Lange Nacht geht zu den Menschen: Zum Beispiel zur Zeche Hugo in Gelsenkirchen. Dort steht die Arbeit schon seit 2000 still. Der ehemalige Bergarbeiter Hannes Wilde blickt auf diese Zeit zurück.
Und Peter Strohmeier, ehemals Professor an der Ruhr-Universität Bochum, beschreibt, wo das Ruhrgebiet beginnt und aufhört, geografisch und sozial. Die vielbefahrene A40 - auch Ruhrschneckenweg genannt, unterteilt die Region in den armen Norden und den reichen Süden.

Worte anderer Sprachen aufgenommen

Und Fußball wird an jeder Ecke gespielt, auch in vielen kleinen Nachbarschaftsvereinen. Zum Beispiel bei Arminia Klosterhardt aus Oberhausen, 1923 gegründet, deren erste Mannschaft schon mal 12:2 gegen einen Konkurrenten gewinnt und beim nächsten 0:4 verliert.
Soziologisch ist der Pott geprägt von der Arbeitsmigration, die seit Beginn der Industrialisierung auch Gebräuche und Lebensarten wild mischte. Die heilige Barbara - die Schutzpatronin der Bergarbeiter - gelangte aus Oberschlesien in den Pott. Der Ruhrgebietsslang nahm auch Wörter anderer Sprachen auf, wie etwa Mottek - für großen Hammer - aus dem Polnischen oder Maloche - für Arbeit - aus dem Jiddischen. Eine Lange Nacht auf Spurensuche nach der Mentalität des Ruhrgebiets und seiner Menschen.

Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendungsfassung hier: Manuskript als PDF/Manuskript als TXT. Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt und fokussiert das Thema der Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema.

Was ist das Ruhrgebiet?
"Ich lebe jetzt seit 35 Jahren nicht mehr im Ruhrgebiet, aber wenn mich einer fragt, wo bist du zu Hause, dann würde ich sagen: Ruhrgebiet und in Herten, das ist für mich Heimat." (Klaus Peter Strohmeier)
"Habe ich meine 80 Studierenden gefragt, wenn sie jetzt - sagen wir - auf Mallorca sind und sie treffen da jemand, einen anderen Europäer und sie müssten ihm erklären, wo sie herkommen. Ruhrgebiet, wie würden sie das Ruhrgebiet definieren? Meine Studenten haben dann mehrheitlich, bis auf ein paar, die nichts sagten, gesagt, Ruhrgebiet, das ist die Region von Kohle und Stahl - wo Kohle gefördert wurde und Stahl gekocht wurde. Das Interessante ist, das ist eine Identifikation, die auf die Vergangenheit zielt."
Was ist eigentlich das Ruhrgebiet? Klaus-Peter Strohmeier war jahrelang Professor an der Ruhr-Universität in Bochum. Der Soziologe setzt sich seit Jahrzehnten mit dem Ruhrgebiet auseinander: mit seinen Menschen, seinen sozialen Strukturen, seinen Zusammenhängen.
Es gibt mehrere Ebenen, auf denen man das Ruhrgebiet erfassen könnte. Die wirtschaftshistorische Ebene ist dabei mit Abstand die einfachste. Das Ruhrgebiet ist die Region, in der Kohlevorkommen ausgebeutet wurden. Jede Kommune, jeder Ort, bei dem unterirdisch ein Kohleflöz abgebaut wurde oder noch wird, ist das Ruhrgebiet. In die heutige Zeit übertragen sind das die Gemeinden, die sich im Regionalverband Ruhr – RVR – zusammengeschlossen haben. Elf große, kreisfreie Städte gehören dazu – wie etwa Essen, Duisburg und Dortmund -, aber auch noch 42 weitere Kommunen in vier Kreisen – dem Ennepe-Ruhr-Kreis, dem Kreis Recklinghausen, dem Kreis Unna und dem Kreis Wesel. Und sind zum Teil noch sehr industriell geprägt, wie etwa Duisburg und Bottrop – oder haben fast ländlichen Charakter, wie beispielsweise Hattingen oder Hamminkeln.
Tetraeder in Bottrop
Tetraeder in Bottrop© Deutschlandradio/Jörg Stroisch
"Da sieht man nördlich der A40, wenn sie also Stadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit rot einfärben und die mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit grün. Dann sieht man nördlich der A40 ist fast alles rot, und südlich der A40 ist das meiste Grün. Das gleiche kann man mit den Ausländeranteilen, also den Anteilen der Menschen ohne deutschen Pass machen. Nördlich der A40 hoch, südlich der A40 niedrig."
Gelsenkirchen und Oberhausen sind Norden, Mülheim ist Süden. Die Städte sind wie in anderen Metropolen Stadtteile auf der Sonnen- oder Schattenseite des Lebens. Das drückt sich auch in ganz konkreten Zahlen aus, die Strohmeier mit drei weiteren Kollegen in einem Buch mit dem Titel "Viel erreicht, wenig gewonnen – ein realistischer Blich auf das Ruhrgebiet" diskutiert. Sie haben ein Buch geschrieben, weil sie die "Liebe zum und die Sorge um das Ruhrgebiet eint" so steht es im Vorwort.
Landschaftspark Nord Duisburg, Windrad
Landschaftspark Nord Duisburg, Windrad© Deutschlandradio/Jörg Stroisch
"Wenn sie zum Beispiel eine Stadt wie Essen nehmen: Es gibt die A40, die als Sozialäquator da durchgeht, da gibt es einen Norden und es gibt einen Süden. Und Leute vom Norden und aus dem Süden mal befragen, wie oft sie auf der jeweils anderen Seite waren. Dann erleben sie so überraschende Dinge wie, so ein Grundschullehrer aus dem Essener Norden hat mir das erzählt, der machte einen Klassenausflug im ersten Schuljahr an den Baldeney See im Essener Süden. Und dann fragte ihn ein kleines Mädchen, türkischer Migrationshintergrund, ist das noch Deutschland? Und umgekehrt, wenn sie Leute aus dem Süden fragen: Ich hab mit einem Arzt aus dem Essener Süden gesprochen, ungefähr mein Alter damals, ein bisschen älter, Ende 40, Anfang 50, bei einer privaten Gelegenheit, und hab ihm dann stolz erzählt, bin jetzt oft in, in Essen, in Katernberg unterwegs. Und dann sagte er mir: Da war ich noch nie. Und dann habe ich ihn gefragt, warum nicht? Und dann gab er mir die Antwort: Was soll ich da?"
Wie sind die Menschen im Ruhrgebiet?
"Jeder der zu mir kommt, dem höre ich zu oder bei anderen, wenn ich jemanden etwas erzähle, zum Beispiel dem Kollege Arno hier, der hört zu, und wir wissen dann sofort eine Lösung und kommen auf den Punkt." (Johannes Wilde)
War eine Kokerei in der Nähe, in der die Steinkohle zur Kokskohle veredelt wurde, denn nur so konnte sie die in den Hochöfen der Region mindestens benötigten 1.200 Grad Celsius erreichen, war die gerade gewaschene Kleidung, die zum Trocknen auf den Balkon gehängt wurde, nach kurzer Zeit wieder grau. Es sind schon seit Jahrzehnten immer weniger Menschen im Bereich Kohle und Stahl beschäftigt, aber die, die dort ihren Job hatten, hatten ihn oft ihr ganzes Arbeitsleben lang.
Manchmal sind es mehrere Generationen die in ein und derselben Zeche ihre Arbeit und im angrenzenden Stadtteil, in den Zechenhäusern, ihr Zuhause fanden. So auch Hannes Wilde, für den die Zeche Hugo sein Arbeitsplatz war, und die darum liegende Siedlung in Gelsenkirchen-Buer bis heute sein Wohnort ist.
"Wenn man hier aus unserem Museum rausgeht und geht rechts die Straße runter, da läuft man vielleicht 50 Meter, da beginnt unsere Halde. Die Bergwerkhalde, der Ausdruck Halde ist bekannt, der Abraum bei der Kohleförderung, ist auf die Halde gelandet. Also rüber, 127 Jahre, unser Bergwerk stand 127 Jahre, von 1873 bis zum Jahre 2000, ist also die Halde gewachsen. Das sind die so genannten Berge des Fleißes. Also, an dieser Halde geht man vorbei, noch mal 100 Meter und dann war man schon auf dem Bergwerk. Und da hab ich 37 Jahre als Betriebsschlosser gearbeitet. Also mir hat der Beruf Spaß gemacht und nach 37 Jahren war ich ein bisschen traurig. Und, als die Zeche geschlossen wurde - da geht die Treppe hoch zur Halde - da bin ich immer diese 298 Stufen hochgegangen. Und dann hab ich immer gedacht: Vor ein paar Wochen oder vor ein paar Monate war ich noch da unten und jetzt wird der ganze Mist abgerissen und da tut sich nichts mehr auf ein Mal. Wenn man bedenkt, dass man hier 1000 Meter tief war, noch gearbeitet hat bis vor wenigen Monaten, dann wird das doch schon komisch."
Zeche Prosper Haniel in Bottrop
Zeche Prosper Haniel in Bottrop© Deutschlandradio/Jörg Stroisch
"Kumpel zwischen Kohle und Kalorie" (1946): "Der Werner und ich, wir hatten keine große Bedeutung unter Tage: Wir hatten Grubenhunde zu beladen und zu verschieben. Aber jung, wie wir waren, hatten wir junge Freunde. Das waren die 18- bis 25-Jährigen, die leistungsfähigsten Hauer, sozusagen die Matadore, die besten Jahrgänge, die vor Kohle arbeiteten. Helle Gesichter, leicht verkniffene Augen, dunkelblonde Schöpfe, eine fixe Umgangsweise, eine derb fröhliche, unvergleichlich großzügige Art, die Hände in die Hosentaschen zu stecken und in der Wirtschaft bedeutungsvoll-bescheiden daraus hervorzuholen, sei es, um das genossene Bier und den "Klaren" zu bezahlen, sei es wegen der bevorstehenden Schlägerei.
Diese temperamentvollen, witzigen Burschen, hart im Fußballspiel, verwegen beim Prügeln und in der Liebe, unermüdlich in der Arbeit, waren treu wie Gold, immer bereit, einander beizustehen. Und ein- oder zweimal in der Woche trafen sie sich im Männergesangverein. Sie waren Meister im Fluchen, aber im Chor sangen sie Lieder vom zarten Mondschein und blauen Blümelein. Sie nannten daheim ihre Mutter mit rauher Zärtlichkeit "Olle", aber im Chor sangen sie, wobei Tenor- und Baritonsoli wechselten, vom "Lieb, lieb Müt-ter-lein...".
Ich habe einen alten eingesessenen Bergmann im Kreise seiner Familie besucht. Seit ihm die Luftmine das Häuschen wegblies, lebt er mit den Seinen zwischen Trümmern. Er sitzt unter der Lampe und studiert die Zeitung. Diese Leute, debattierlustig, aufgeweckt, ein bisschen eigenbrötlerisch, haben immer mit geradezu wollüstigem Interesse Zeitungen gelesen, wenn sie die Tage vom Sturm und Drang der Jugend hinter sich hatten. Das blank geputzte Essgeschirr an der Hand und Zeitungen, die aus den Taschen guckten - so kannte man den alten Kumpel. Er hatte ein ganz kleines Häuschen, einen ziemlich großen Garten, zwei, drei Ziegen, einen Radioapparat, einen Gesangverein, vielleicht einen Sparverein und eine Zeitung, die von der ersten bis zur letzten Zeile studiert wurde. Das war sein Leben. Dass er gut zu essen hatte, war selbstverständlich bei der "Knochenarbeit". Darüber wurde nie geredet. Was ist dem Bergmann davon geblieben? Fast nichts? "Ich bin 43, war im Krieg und in der Gefangenschaft und arbeite noch vor Kohle. Mit 43 Jahren!" Aber er klagt nicht, ist sogar ein bisschen stolz auf seine Leistung. Er wirkt erschreckend alt."
Halde Hugo in Gelsenkirchen
Halde Hugo in Gelsenkirchen© Deutshlandradio/Jörg Stroisch
Diese Reportage schrieb Josef Müller-Marin im Jahr 1946, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und in ihr wird schon deutlich, wie die Arbeit die Mentalität prägte und wie die Mentalität auch bis heute geblieben ist, obwohl es kaum noch Zechen und Stahlwerke gibt, in denen gearbeitet wird. Mit Prosper Haniel in Bottrop schließt Ende 2018 die letzte Steinkohlezeche des Reviers.
Die Sprache transportiert dabei auch die Mentalität der Ruhrgebiets: offen, direkt, manchmal auch ruppig, nie um eine Meinung verlegen. Wobei - und das verstehen viele Menschen außerhalb der Region nicht - ein Essener, Bottroper oder Dortmunder zwar unaufgefordert und direkt zu allem Möglichen seine Meinung äußert, aber nicht per sé erwartet, dass sie auch geteilt und gar umgesetzt wird. Wenn Sprache die Mentalität prägt und Mentalität die Sprache, dann ist der Ruhrpottslang Ausdruck der harten, gefährlichen Arbeit der Zechen und Hüttenwerke. Klare Anweisungen sind hier ein Muss.
Der Nachbarschaftsverein – Fußball im Revier
"Man muss direkt und schnell sein. Und man redet nicht groß drum um den Brei herum. Im Grunde lernt man hier die klare Ansprache im Fußballverein." (Martin Reuschenbach)
Der Fußball – das gehört zum Ruhrgebiet so untrennbar wie das Bier. Und auch zumindest im Rückblick der Stahl und die Kohle. Er hat die Region ebenso geprägt, die Menschen begeistert, viele Nationalitäten in die Gesellschaft integriert. Auf jedem Pausenhof wird Fußball gespielt, wenn ein Ball fliegt, sind gleich Kinder und Jugendliche zusammen. Martin Reuschenbach aus Oberhausen erinnert sich an seine Jugend so:
"Wir haben in den Parks gespielt, auf den Wiesen. Was natürlich auch nicht gerne gesehen wurde, da gab es immer noch Schilder Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder, und so weiter. Und äh, das haben wir uns aber nicht nehmen lassen. Wir haben überall Fußball gespielt. Als ich früher mit den Hausaufgaben fertig war, da bin ich nach draußen gegangen und dann kamen aus der direkten Nachbarschaft zehn, zwölf Kinder zusammen und dann konnte man Fußball spielen. Und dann konnte man toben draußen, da konnte man hier in den Wald gehen und Spiele abhalten."
Martin Reuschenbach ist der Fußball in die Wiege gelegt worden – und aus dieser Leidenschaft ist eine enge Verbundenheit zu seinem Verein entstanden, dem DJK Arminia Klosterhardt in Oberhausen, einen kleinen Nachbarschaftsverein.
Gipfelkreuz auf Halde Haniel
Gipfelkreuz auf Halde Haniel© Deutschlandradio/Jörg Stroisch
Der erste Fußballverein, der sich im Ruhrgebiet gründete, war der Wittener Fußballclub. Seit 1892 gibt es ihn. Er war damit der fünftälteste Fußballverein in Deutschland. In den Jahren danach gründeten sich unzählige weitere Vereine. Auch heute noch im Revier bekannte, große Vereine oder Vereine mit einer großen Tradition sind zum Beispiel Borussia Dortmund, gegründet 1909, Schalke 04, gegründet 1904, VfL Bochum, gegründet 1938, MSV Duisburg, gegründet 1902, Rot-Weiß Oberhausen, gegründet 1904, Rot-Weiß Essen, gegründet 1907 und SG Wattenscheid 09, gegründet 1909. Diese und viele weitere mittlerweile nicht mehr über die Landesgrenze hinaus bekannte Vereine konnten einige Erfolge in den verschiedenen Ligen erspielen.
"Im Ruhrgebiet" (1958): "Nicht alle Mächte, die im Ruhrgebiet wirken, sind anonym, grau, hinter den Gesichtern unschuldig lächelnder Angestellter versteckt oder hinter der scheinbaren Offenheit gläserner Fassaden verborgen; vielerlei wirkt auf die Kohlenförderung ein: die fälligen Raten für Möbel, Motorräder, Hausrat, Kinder, die einfache Lust am Geldverdienen und Geldausgeben, doch wirkt auch eine Macht, deren Einfluss man am wenigsten erwarten würde: der Fußball. Von 16 Vereinen der Oberliga West sind zwölf im Ruhrgebiet beheimatet; der Fußball ist dort nicht nur Berufsinstrument, er ist auch Requisit hoher artistischer Eleganz, Objekt mathematischer Präzision, er ist Roulettekugel, die – je nachdem in wie viele und welche Tore sie rollt – die Maschine des Glücks in Bewegung setzt, bare Münze ins Rollen bringt. Die Spieler sind Gegenstand der Bewunderung und Kritik, Stars, den Launen ihrer Zuschauer ausgesetzt, 800 oder 1000 Meter unter der Erde werden am Montag ihre Bein-, Kopf und Armbewegungen einer genauen Kritik unterzogen, werden die wirklichen und die Eventualergebnisse heftig diskutiert, werden Götter inthronisiert oder gestürzt, wird geflucht oder angebetet; die ganze komplizierte Algebra des Fußballspiels durchgerechnet; das verlorene Spiel eines Favoriten, eines Meisterschaftskandidaten, der Fehler eines Stars, einer verpassten Torchance, sie wirken sich in Tonnen Kohle aus; am Montag ertönt das knallende Geräusch, mit dem der Förderturm die Loren ausspuckt, weniger häufig als an anderen Wochentagen, am Montag rückt die Schlange der Güterwagen langsamer voran."
Tiger & Turtle in Duisburg
Tiger & Turtle in Duisburg© Deutschlandradio/Jörg Stroisch
So fasste das der Schriftsteller Heinrich Böll in seiner Reportage "Im Ruhrgebiet" zusammen. Fußball als Lebenselixir des Reviers. Und das bezieht sich nicht nur auf die ganz großen und bekannten Vereine des Reviers. Sondern der Fußball war immer auch direkt bei den Menschen vor der Tür zuhause.
Reuschenbach – übrigens Fan der Borussia Dortmund - ist schon seit seinem zehnten Lebensjahr Mitglied im Verein DJK Arminia Klosterhardt. Der war im Ursprung ein katholischer Fußballverein, der sportliche Ableger der örtlichen Gemeinde. Gegründet wurde er 1923. Die Verbindung zum Ortsteil ist dann enger geworden, auch zu den verschiedenen Zechen in der Umgebung. Allerdings wurde der Verein nie von einer Zeche oder einem Hüttenbetrieb gefördert, wie es bei anderen Vereinen der Fall war, war eben im Ursprung kein klassischer Arbeiter-Fußballverein. Der DJK-Verband war ein Verband der Kirche.
"Und ich komme aus einem ur-katholischen Haus und das war natürlich dann auch für meinen Vater ein Grund, zu sagen, wenn du bei der Kommunion gewesen bist, dann darfst du anschließend hier Mitglied im Verein werden. Das hat man mit neun Jahren, und also mit zehn Jahren bin ich dann letztendlich hier angemeldet worden."
Die Fußballspiele der regionalen Profiklubs sind heute hoch professionelle Veranstaltungen, die aber immer noch an die alten Traditionen anknüpfen. Und für manch einen tragen sie auch geradezu religiös-tranzendentale Züge. Uwe Lorenz war lange Jahre Pfarrer in Gladbeck. Er soll zwar keinen Gott neben Jahwe haben - aber Schalke 04 und auch immer noch Rot-Weiß Essen bilden hier ein bisschen eine Ausnahme:
"Also Gladbeck liegt ja direkt nebenan, also, mit dem Fahrrad bin ich eine viertel Stunde bis zum Stadion gefahren. Als ich angefangen habe, sollte man sich ja auch da vorstellen. Und dann habe ich geschrieben, sie können mich jederzeit anrufen und fragen, und wenn irgendwas ist, ich bin jederzeit da. Nur samstags 18 Uhr hätte ich einen Termin. Fanden viele lustig, einer fand das nicht so lustig, der hat sich beschwert. Dann war auch klar, wo mein Herz schlägt."
Ein Leben ohne Fußball? Für Uwe Lorenz undenkbar. Immer wieder nutzte er seine Fußball-Leidenschaft, schon ganz früh in der Ausbildung. Da musste er nämlich im Proseminar in Münster seine allererste Predigt vorbereiten und halten:
"Da ging es um Zukunftsängste. Und dann habe ich als Beispiel genommen, gucken sie sich doch mal unseren Verein an, Schalke 04. Wenn wir von der Gegenwart reden, Loser, die haben da am Tabellenende rumgekrebst. Und was machen die Fans? Die reden von früher, weil sie Angst vor der Gegenwart und der Zukunft haben. Und dann habe ich die Predigt abgeben. Und dann 14 Tage später sollte ich die halten. Und dann habe ich das alles weggelassen. Und dann war der Professor, sagte der, wieso, das war doch so schön, warum haben sie das denn weggelassen? Da habe ich gesagt, das kann gar nicht mehr sein, weil Klaus Fischer hatte einen Beinbruch gehabt, und ist lange ausgefallen, und dann hat der sein erstes Spiel wieder gemacht. Und dann waren auf einmal 40.000 Leute im Parkstadion. Da kann ich doch nicht sagen, dass die Angst vor der Zukunft haben, die haben doch jetzt wieder Hoffnung."
Zeche Zollverein in Essen
Zeche Zollverein in Essen© Deutschlanrdadio/Jörg Stroisch
27 Jahre war Uwe Lorenz Pfarrer auf dem Rosenhügel, dem Pfarrbezirk Brauck, der unmittelbar an Gelsenkirchen und den Essener Norden grenzt, bevor er sich 2015 in den Ruhestand verabschiedete und in die Nähe nach Herten zog. Auch von hier aus ist es für ihn nicht weit zur Schalke-Arena. Ein Pfarrer mit Fußballleidenschaft.
Irgendwie ist der Fußball auch selbst eine Art Religion: Zu den Spielen der großen Revierklubs kommen – sie pilgern - jedes Wochenende zehntausende Fans; die Stadien – die Kathedralen des Fußballs - fassen tausende Zuschauer. Borussia Dortmund etwa 81.000, Schalke 04 etwa 62.000, MSV Duisburg mit 31.500, VfL Bochum mit über 29.000 – und selbst Rot-Weiß Oberhausen mit über 21.000 und Rot-Weiß Essen mit über 20.000 Plätzen. Sie beten ihre Vereine an, sind allesamt die besseren Trainer.
Die direkte Ansprache, die Herzlichkeit, die Malocher-Ethik, die Warmherzigkeit, der Schmelztiegel der Kulturen: Der Fußball ist auch Ausdruck davon. Die Mentalität des Ruhrgebiets prägt auch den Fußball.
Den Menschen im Ruhrgebiet ist es zu wünschen, dass sie aus ihrer glorreichen, aber mittlerweile auch verstaubten Industrievergangenheit eine Vision für die Zukunft entwickeln. Eine Zukunft jenseits der Industrie und mit einer gerechten Chancenverteilung zwischen Nord und Süd. Denn ob Professor an der Ruhr-Uni oder Ex-Bergarbeiter in Gelsenkirchen, Fußballfunktionär in Oberhausen, oder Schalke-04-Pfarrer in Herten: Für sie ist es die schönste Region der Welt.
"Glück auf!"

Produktion der Langen Nacht:
Autor: Jörg Stroisch, Regie: Jan Tengeler, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Sprecher: Wolfgang Rüter und Martin Bross, Web- und Webvideoproduktion: Jörg Stroisch

Über den Autor:
Jörg Stroisch ist freier Journalist in Köln. Der Diplom-Sozialwissenschafter studierte an der Ruhr-Universität in Bochum, machte sich später selbstständig und ist insbesondere auf Privatfinanzthemen rund um die Bereiche Versicherung, Vorsorge und Immobilie spezialisiert. Das Ruhrgebiet ließ in aber ebenfalls journalistisch nie los, er verfasste zahlreiche Reportagen und auch Hörfunkbeiträge über seine Heimat.

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