"Eine interessante Koalition, die heute auf der Straße ist"

Moderation: Korbinian Frenzel · 03.06.2013
Die Proteste in der Türkei sind nicht nur zivilgesellschaftlich motiviert, glaubt der Schriftsteller Zafer Senocak: Unter die Demonstranten würden sich auch viele Nationalisten und Ewiggestrige mischen. Premierminister Erdogan sei wegen der Unruhen bereits politisch beschädigt.
Korbinian Frenzel: Es ist nicht ruhig geblieben in der Türkei gestern in Istanbul und auch in Ankara nicht. Es gab wieder Proteste gegen Premierminister Erdogan, es gab wieder die Antwort der Polizei mit Tränengas. Und es gibt viele Fragen, die daraus erwachsen. Was erleben wir da gerade in diesem großen Land zwischen Europa und Asien? Eine Art politischen Frühling? Fragen an den Schriftsteller Zafer Senocak. Geboren ist er in der Türkei, seit vielen Jahren lebt er in Deutschland, und in Berlin erreiche ich ihn jetzt. Guten Morgen, Herr Senocak!

Zafer Senocak: Guten Morgen!

Frenzel: Das sind turbulente Tage in der Türkei. Sie haben Familie, Sie haben Freunde dort. Vielleicht das mal vorweg: Was hören Sie von ihnen, was sind die Nachrichten, die Sie erhalten?

Senocak: Ja, zunächst mal muss man sagen, dass, genau wie in arabischen Ländern, der Twitter zu einer neuen Nachrichtenquelle geworden ist. Es wird also sehr viel getwittert in diesen Tagen. Viele Kollegen sind unterwegs, viele Schriftsteller, Künstler engagieren sich für die Proteste. Es wird aber auch gewarnt davor, dass die Proteste übernommen werden von kleineren Gruppen, die ihre eigenen Agendas auf die Tagesordnung setzen wollen. Und viele Unwahrheiten werden natürlich über Twitter auch verkündet und weiter verbreitet, also da gibt es auch noch eine zweite, kritische Öffentlichkeit, die entstanden ist, nachdem die großen Medien in der ersten Stunde der Proteste versagt haben, weil sie kaum berichtet haben. Das hat sich mittlerweile verändert.

Frenzel: Es ging ja erst mal nur um ein Stückchen Grün in Istanbul. Ein Park, ein paar Bäume – aber ganz offenbar geht es ja um mehr. Was für einen Konflikt erleben wir da?

Senocak: Es geht um Kultur, um Kulturpolitik, um die Art und Weise des Lebens. Wie möchte man leben? Das sind für die Türkei schon mittlerweile sehr luxuriöse Fragen, wenn man bedenkt, dass vor zehn, fünfzehn Jahren das ein ganz armes Land war, in dem es einfach erst mal ums Überleben ging, ums ökonomische Überleben, dass es sehr große, breite Konfliktlinien gab, wenn man an den türkisch-kurdischen Konflikt denkt, den man versucht, jetzt beizulegen. Mittlerweile engagieren sich aber die Menschen auch mehr zum Beispiel für die Umwelt. Und die Stadt Istanbul, die ja sehr schön liegt am Meer, mit einem Meeresarm dazwischen, dem Bosporus, hat aber kaum Grünfläche. Und wenn jetzt eine kleine Grünfläche verschwinden soll, dann engagieren sich natürlich viele Menschen über Parteigrenzen hinweg dafür. Das ist aber nicht der einzige Grund. Ich glaube, dass sich auch viel Ärger gegenüber dem Premierminister Erdogan angestaut hat, der einfach sehr selbstherrlich auftritt. Das kommt bei der Bevölkerung nicht gut an.

Frenzel: Aber spiegelt das vielleicht auch einen Konflikt, der durch die Gesellschaft geht? Wir haben ja gesehen, beeindruckende Zahlen, Hunderttausende, die auf die Straße gehen – aber das heißt immer noch, Millionen bleiben zu Hause. Sind das die stillen Unterstützer von Erdogan?

Senocak: Auf jeden Fall! Herr Erdogan hat mindestens die Hälfte der Bevölkerung hinter sich. Das heißt aber nicht, dass diese Menschen hundert Prozent zu seiner Politik stehen. Das Problem ist Folgendes: Wir haben natürlich heute in der Türkei eine Regierung, die in den 90er-Jahren noch sehr, sehr weit rechts stand, im islamischen Lager, antieuropäisch, antisemitisch, antiwestlich. Heute hat sich das Bild etwas geändert, aber immer wieder kommen Anklänge aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Und man möchte verhindern, dass die zukünftige Türkei viele dieser Anklänge mitnimmt.

Frenzel: Für uns ist das hier manchmal aus der Beobachterperspektive etwas schwierig. Wenn wir Erdogan sehen, dann wissen wir natürlich um die Vergangenheit, die Sie dargestellt haben, die islamischen, islamistischen Wurzeln, aber wir sehen auch die letzten zehn Jahre seiner Regierungszeit, der wirtschaftliche Erfolg, gleichzeitig aber auch Öffnung in der Kurdenfrage. Warum zieht er so viel Zorn jetzt auf sich? Er hat doch das Land eigentlich modernisiert?

Senocak: Ja, aber das ist ja das Problem. Das ist natürlich eine Sache, die man unterschiedlich betrachten kann. Ökonomisch, kein Zweifel, großer Erfolg auch der Regierung. Die Regierungs-Art und -Weise hat sich in der Türkei modernisiert, das muss man sagen, das hat Erdogan schon als Oberbürgermeister von Istanbul an den Tag gelegt, ein viel offenerer Regierungsstil als die früheren Regierungen, das muss man ihm auch zugutehalten. Deswegen ist er auch populär. Er ist nicht populär, weil er ein frommer Muslim ist, sondern weil er ein erfolgreicher Politiker ist. Aber zum Beispiel die Beilegung des Kurdenkonflikts hat, denke ich mal, eine Unterstützung in der Bevölkerung, aber natürlich auch scharfe Gegner. Deswegen muss man heute aufpassen: Unter diesen Protestlern, da sind auch viele Nationalisten, sind auch viele Ewiggestrige. Es ist eine interessante Koalition, die heute auf der Straße ist. Deswegen muss man das ein bisschen genauer betrachten.

Frenzel: Das heißt, die Losung, die, die da auf der Straße sind, wollen eine moderne, eine weltoffene, demokratische Türkei, die geht nicht ganz so automatisch auf?

Senocak: Nicht ganz. Das Ganze ist ganz kompliziert – der typische Nahe Osten eigentlich. Wenn wir heute auf Syrien schauen, sehen wir genau dasselbe: Lager, die wir nicht so ganz genau durchdeklinieren können. Anschauen müssen wir das genauer. Ich denke schon, dass es einen Antrieb gibt für eine moderne zivilgesellschaftliche Türkei in dieser Protestbewegung, aber eben auch Ränder, die man vorsichtig betrachten muss.

Frenzel: Ist es denn aus Ihrer Sicht Zeit für ein Ende der Ära Erdogan in der Türkei?

Senocak: Das wird die Bevölkerung entscheiden. Die Türkei ist eine Demokratie, es gibt Wahlen in diesem Jahr noch, die nächsten Jahre Kommunalwahlen und 2015 dann die Parlamentswahlen. Erdogan wollte sich zum Präsidenten, zum mächtigen Präsidenten küren lassen, das wird, glaube ich, jetzt schwieriger. Es steht eine neue Verfassung an, die Verfassung der Militärs nach dem Putsch 80 soll ja verändert, demokratisiert werden. All dies sind große Fragen. Sie brauchen einen Konsens in der Gesellschaft. Erdogan muss lernen, aus der Stärke heraus nicht zu stark zu polarisieren. Das ist sein Problem.

Frenzel: Aber ich frage noch mal Sie direkt: Steht Erdogan für diesen Konsens? Ist er derjenige, der die Brücke bauen kann zwischen der ländlichen, der nichtmodernen Türkei und der weltoffenen, europäischen Türkei?

Senocak: Na ja, bisher, wie wir sehen, nicht mit großem Erfolg. Also sein Problem ist schon, dass das Land gespalten ist, dass er einfach zu starke Gegner hat, und er muss einen anderen Weg finden. Er ist ja nicht allein. Das ist ja eine große Volkspartei inzwischen, die er da anführt. Da sind natürlich auch verschiedene Flügel, und da waren auch sehr viele kritische Stimmen jetzt nach den Ereignissen. Also, Erdogan selbst hat ja die Polizei kritisiert, aber auch viele Politiker. Ich denke schon, dass es einen Konsens am Ende geben wird, weil die Türkei einfach mittlerweile in einer ganz anderen Liga spielt ökonomisch. Sofort schaut man auf die Börsen, wie wird das im Ausland gesehen – also, die Diskussion hat sich mittlerweile in diese Richtung entwickelt, dass das Land natürlich auch ganz anders betrachtet wird als vor zehn, zwanzig Jahren, als es viel geschlossener war.

Frenzel: Das sagt Zafer Senocak, Schriftsteller in Berlin, geboren in der Türkei. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Senocak: Gern geschehen!

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