Eine Inszenierung mit theoretischen Anstrengungen

23.04.2012
In einer mobilen Treppenlandschaft, gerahmt von Ostsee-Backsteinarchitektur, inszenieren Marc Minkowski und Olivier Py die Goethe-Adaption "Mignon" von Ambroise Thomas. Py nennt das die "Re-Shakespearisierung" des Werks.
Selbst notorischen Musikfreunden dürfte Ambroise Thomas nur noch durch die Goethe-Adaption "Mignon" (1866) ein Begriff sein. Seine oft raffiniert instrumentierte Theatermusik wurde zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich rezipiert.

Für die Zeitgenossen war sie mit dem wohl dosierten Mischungsverhältnis von pompösem und kantablem Ton, von Sentimentalität und Eleganz, von Chor- und Tanzszenen ein "Triumph der französischen Oper". Die fünfaktige große Oper hatte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwa die Funktion des Kostümfilms heute.

Also wurde mit dem "Hamlet"-Libretto von Michel Carré und Jules Barbier das Shakespeare-Drama nach den vermuteten Bedürfnissen des französischen Publikums reduziert und abgemildert. Das Erfolgsautorenduo änderte nach den Konventionen der französischen (musikalischen) Tragödie insbesondere den Schluss; gegenüber dem Shakespeareschen Original fallen weniger Tote, Grausamkeiten und Seeschlamm an.

Dieser "Populismus", den das in Paris obligatorische Ballett noch auflockerte und das damals offensichtlich noch immer beliebte Trinklied würzte, wurde der Nachwelt zum Problem. Sie wollte und will es mehr mit der Original-Vorlage halten.

Vor diesem mehrschichtigen Hintergrund wundert es nicht, dass das Inszenieren in diesem Fall nicht ohne theoretische Anstrengung von statten ging, Olivier Py hat sie nicht gescheut. Im Programmheft legte er seine Prämisse offen: "Hamlet – und das ist einer der Gründe für seinen Erfolg im 20. Jahrhundert – ist ein Stück ohne Gott".

Von dieser (übrigens unzutreffenden Behauptung) ausgehend erörterte der Regisseur "für Europa ein Schicksal von Dekadenz und Fäulnis" und spricht Shakespeare die "ersten Ahnungen über das Scheitern der abendländischen Kultur" zu. Daraus, so behauptet Py, resultierten vier Lesarten für eine Inszenierung von "Hamlet": eine philosophische, eine psychoanalytische, eine politische ("das ewige Trachten nach Rebellion" – aber auch das ist nur ein Teilaspekt des Werks, der zu Gunsten des Ganzen nicht verabsolutiert werden sollte); schließlich der (offensichtlich bevorzugte) ästhetische Zugriff auf das Werk, nach der das Theater eine Welt und die Welt ein Theater und ergo alles spielerisch möglich sei.

Einen fünften, weniger ideologisch verkürzten Zugang zum Werk von Ambroise Thomas erwähnt der theatertheoretische Grundsatztext interessanterweise nicht, wiewohl er der nahe liegende sein könnte, die historisch-kritische Lesart, die verschiedene Schichten des Werks sichtbar macht.

Olivier Py hält den Gegenstand seiner Abarbeitung offensichtlich für "Verrat an Hamlet". Carré und Barbier hätten – so der Hauptvorwurf – "die philosophische und politische Dimension des Werks vernachlässigt". Dagegen kündigte Py die "re-Shakespearisierung" an. Und das meinte dreierlei: Die von den Librettisten weg gekürzte Brutalität der Royals sollte immer wieder in pantomimischen Szenen drohen, die von Barbier und Carré aufgewertete Liebesgeschichte durch das von Anfang an gezeigte Desinteresse Hamlets an Ophélies Feminität neutralisiert und am Ende auch die Mutter wie der Sohn zu Tode gebracht werden.

Inszeniert wurde im Theater an der Wien in einer mobilen Treppenlandschaft, gerahmt von Ostsee-Backsteinarchitektur. In ihr agieren modern gekleidete Leute oder Uniformen, wie sie Prinzgemahl Philipp oder König Juan Carlos bei repräsentativen Anlässen zur Schau stellen. Im Übrigen wird, offensichtlich als Referenz an ein starkes Segment im Publikum, viel gut trainierter nackter Männeroberkörper gezeigt (dies erfordert die intendierte re-Shakespearisierung nicht zwingend).

Einige markante Einlagen mögen sich dem Gedächtnis einprägen; z.B. der zentrale Dialog mit der als Mittäterin des mörderischen Onkels verdächtigen Mutter, den Hamlet splitterfasernackt von der Badewanne aus führt und bei dem er die emotional verunsicherte Dame im großen Schwarzen schließlich untertaucht. Doch der Geist des toten Vaters, der die ganze Beweislast durch schlichte Behauptung auf sich nimmt, erinnert Hamlet eben noch rechtzeitig an sein Gebot, Gertrude zu schonen – obwohl sie aus der Sichte der für Blutrache begeisterungsfähigen Zuschauer das Ersäufen vollauf verdient hätte.

Philippe Enz als neuer König und Onkel Claudius ist einer jener französisch-väterlichen Bässe, die mit nicht allzu schwerer, in der Höhe elegant geführter Stimme weit mehr Sympathieträger als Bösewicht sind. Gertrude, die des Liebesverrats verdächtige Mutter, hat eine nicht minder anspruchsvolle Mezzo-Partie zu durchmessen. Stella Grigorian erledigt diese große Aufgabe mit Bravour und verkörpert eine Mutter, der man das aktive Liebesleben gerne glauben möchte. Im Zentrum der stimmlichen Erwartungen aber stehen Stéphane Degout und Christine Schäfer, das "hohe Paar", das keines wird: Mit der Abschieds-Arie des 4. Akts und der in sie eingeschalteten "schwedischen Ballade" von den Wassergeistern, den Willis, demonstriert Christine Schäfer aufs Neue die luzide Virtuosität und bestechende Klarheit ihrer Stimme

Stéphane Degout überwindet während des Auftritts der von Hamlet georderten Schauspieler die vorwaltende Introvertiertheit des konsequent selbstbezogenen Titelhelden und lässt kernig Rachelust aufflackern, um sich dann wieder in die Beglaubigung der seiner Partie zugeschriebenen Melancholie zurückzunehmen: "Être ou ne pas être", das ist hier nur beiläufig die Frage des Egoisten von Geblüt.

Die Wiener Symphoniker zeigen gelegentlich kleine Irritationen beim Sekundieren und der Dirigent Marc Minkowski scheint gelegentlich gewisse Konditionsschwächen beim Spannungsaufbau der langsamen Partien zu haben. Aber insgesamt tragen auch die Damen und Herren im Graben zu einer hochkarätigen Erinnerung an diese selten gespielte Grand opéra bei.

Olivier Py hat auf sie im Prinzip mit der gleichen Methode zugegriffen wie zuletzt auf "Les Huguenots" in Brüssel. Doch zeichnet sich Meyerbeers Hauptwerk durch den Vorzug aus, dass vom göttlichen Willen immer nur (und kontrastierend) gesungen wird. Im "Hamlet" von Thomas meldet er sich mit der Geisterstimme des toten Vaters leiblich konkretisiert (und dank Jérôme Varnier an der Wien wohl prononciert) – das in dieser Form an Glaubensvorstellungen des Mittelalters gebundene Gespenst kollidiert unversöhnlich mit scheinhafter Übertragung in eine vergegenwärtigende Abstraktheit. Machtwechsel vollziehen sich heute anders als im angefaulten Staate Dänemark einer im Halbdunkel liegen gebliebenen Geschichtsepoche – mitunter nicht weniger grausam und vielleicht gleichfalls dank eines umgehenden Gespensts. Das Shakespeare-sche ist womöglich nur noch durch Ironie zu retten.


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