Eine große Schriftstellerin

Von Jürgen König · 13.12.2011
Bei der Gedenkveranstaltung am Abend in der Akademie der Künste hat Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) Christa Wolf als gesamtdeutsche Autorin gewürdigt: "Berlin verneigt sich vor dieser großen Schriftstellerin", sagte Wowereit.
Eine Gedenkfeier, eine Trauerfeier. Auf Einladung der Familie Christa Wolfs und der Akademie der Künste, deren Mitglied sie war. Seit 1974 gehörte sie der Ostberliner, seit 1982 der Westberliner Akademie der Künste an, doch führte Christa Wolf keine politische Doppelexistenz, sondern war: Bindeglied zwischen beiden Akademien, beiden deutschen Staaten.

Eine Gedenkfeier: 16 Rednerinnen und Redner, Freunde, Wegbegleiter. Genau wie die im Saal, so der Eindruck – eine Gemeinde. Kein Applaus. Eine Trauerfeier.

Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit erzählte, schon als Schüler mit Büchern Christa Wolfs konfrontiert worden zu sein, was damals für West-Berliner Schulen durchaus heikel gewesen, sei und sagte dann:

"Christa Wolf hat versucht, Wahrhaftigkeit zu leben. Nachdenken verstand sie, so schrieb sie, in ‚Nachdenken über Christa T.’ als den Versuch, man selbst zu sein. Christa Wolf unterzog sich immer wieder harten Selbstprüfungen, die vor der eigenen Biografie nicht haltmachten. Sie widerstand Vereinnahmungsversuchen und deckte doch auch immer wieder eigene Schwächen auf.

Dass sie dazu stand und diese auch literarisch thematisiert hat, darin lag eine ihrer größten Stärken. In ihrem Buch ‚Kindheitsmuster’ gibt es den Satz, ‚Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen’ Heute verstehen wir diesen Satz anders. Berlin verneigt sich vor dieser großen Berlinerin und sagt: Danke, Christa Wolf."

Auch Ulla Unseld-Berkéwicz vom Suhrkamp-Verlag betonte Christa Wolfs Wahrhaftigkeit:

"Die großen Worte, Deine für alle Fälle, die trug man im hinteren Kopf verborgen. Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Ernst und Würde und Sehnsucht auch, ja klar. Am unbedingtesten ist eh die Sehnsucht, das deutscheste der deutschen Wörter. Man sollte uns am Grad unserer Sehnsucht messen, bemessen sollte man uns nach ihnen, beurteilen, verurteilen oder freisprechen.

Der Grad unserer Sehnsucht, der Sehnsuchtsgrad ist der einzige Gradmesser, kommt mir vor. Die Auslotung der Sehnsucht, der Sehnsuchtsbegabung, der Sehnsuchtsfähigkeit, der Sehnsuchtssehnsucht. Die Sehnsucht war mir Deine Hauptsache."

Der Theologe Friedrich Schorlemmer erzählte, in welch hohem Maß Christa Wolf zur Freundschaft fähig war - und:

"2007 schrieb sie mir: ‚Manchmal möchte man einfach die Klappe halten vor all der nachwachsenden Dummheit.’ Aber das geht eben doch nicht. Der nachwachsenden Dummheit entgegenzutreten. Das werden wir jetzt ohne sie unternehmen müssen, wenigstens die Wachstumsstörung der Dummheit befördern. Wir können zurückgreifen auf das, was sie uns hinterlassen hat, an menschlichem Reichtum, an gedanklicher Klarheit und nicht zuletzt: an wachem Einspruch und an warmherzigem Zuspruch."

Der französische Verleger und Übersetzer Christa Wolfs, Alain Lance:

"Insbesondere durch ‚Kindheitsmuster wurde uns in Frankreich der Werdegang einer deutschen Generation einsichtig, betont Nicole Barry. Der Romancier Michel Host bezeichnete das Buch als den Brunnen des deutschen Gedächtnisses."

Der Schriftsteller Ingo Schulze: "Ich bin Christa Wolf persönlich zu erst in der Öffentlichkeit begegnet, vor etwa zehn Jahren. Ungewöhnlich genug war, dass Schriftsteller ins Kanzleramt geladen warfen, der Krieg in Afghanistan mit deutscher Beteiligung stand bevor. Christa Wolf war die einzige Frau unter 25 Gästen.

Nachdem der Austausch von Standpunkten vorüber war, ein Gespräch konnte man das nicht nennen, ging ich auf Christa Wolf zu, weil ich ihr danken wollte. Zum einen, weil sie, da meine Frage unbeantwortet geblieben war, an meiner Statt nachgefragt hatte, und so meine Existenz in jenem Raum wieder hergestellt hatte. Zum anderen, weil sie an diesem Ort aus ihrer "Kassandra" zitiert hatte: "Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.""

Der Schriftsteller Günter Grass erinnerte an Artikel des Jahres 1990, in denen Ulrich Greiner in der "Zeit" und Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Christa Wolf vorgeworfen hatten, ihr Buch "Was bleibt?" aus dem Jahr 1979, eine Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit der DDR, "aus Feigheit" erst 1990 veröffentlicht zu haben.
"Aus sicherem Port und berauscht von jenem Gratismut, der offenbar als Topfpflanze besonders gut in Redaktionsstuben gedeiht, warf man der Autorin vor, zu feige gewesen zu sein, ihre Erzählung gleich nach der Niederschrift veröffentlicht zu haben. Das hätte, so behauptete Ulrich Greiner, sicherlich das Ende der ‚Staatsdichterin’ Christa Wolf und vermutlich ihre Emigration zur Folge gehabt."

Und weiter:

"Vergeblich ist wohl die Erwartung, es könnten sich die Wortführer der Kampagne von einst spätestens jetzt, nach Christa Wolfs Tod nachlesbar entschuldigen und sei es auch nur, indem sie die verletzende Wirkung ihrer Infamie erkennen. Doch offenbar fehlt jener Mut zum Selbstzweifel, den Christa Wolf lebenslang, ich meine, im Übermaß bewiesen hat."

Der den längsten Weg mit Christa Wolf gemeinsam zurückgelegt hat, sprach zuletzt: Gerhard Wolf.

"Ich möchte allen Freunden danken, die heute Abend hier gesprochen haben. Ich lese aus dem Schlusskapitel des Buches ‚Stadt der Engel’."

Und dann las Gerhard Wolf aus dem Roman bis zu einem bestimmten Punkt - und überließ dann das Wort der Frau, mit der er 60 Jahre lang verheiratet gewesen war.

"Das kleine Land, aus dem ich kam, war zu unbedeutend, um Anteilnahme zu verdienen. Stand über ihm von Anfang an nicht das Menetekel des Untergangs? Ins Nichts mit ihm. Wäre es möglich, dass ich um einen banalen Irrtum so sollte gelitten haben?"

Eine Gedenkfeier, eine Trauerfeier. Das Publikum verlässt schweigend den Saal – mit den Schlussworten des Romans Stadt der Engel noch im Ohr:

"Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht."