Eine Geschichte, aus der es kein Entrinnen gibt

Rezensiert von Kolja Mensing · 09.06.2006
Auf den ersten Blick ist Norbert Zähringers neuer Roman "Als ich schlief" eine Sammlung absurder Episoden. Im Zentrum aber, in dem sich alle Erzählstränge vereinen, steht die Geschichte des ehemaligen Nazi-Arztes Arnold Zumvogel. Zähringer ist es gelungen, die Medizinverbrechen der Nationalsozialisten in eine verspielte Erzählung zu weben.
Es ist ein kalter Samstagmorgen im März des Jahres 1985. Der amerikanische Vizepräsident war gerade auf Staatsbesuch in Afrika und ist jetzt auf dem Weg nach Westberlin. Er ahnt nicht, dass sich an Bord seiner Boing 727 ein blinder Passagier befindet – ein junger Mann namens Ismael Khan, der während des Landeanflugs halb erfroren aus dem Fahrwerkschacht stürzt und mehr oder weniger weich in dem Container einer Altpapierfirma landet, direkt vor den Füßen des Langzeitstudenten Paul Mahlow. Das mag eine Spur unglaubwürdig klingen, für Pauls Freund Alp ist die Geschichte des afrikanischen Flüchtlings jedoch zunächst einmal ein weiterer Beleg für seine Theorie der "Zufallschübe", die die Welt "gleich einer Serie von Lottokönigen" von Zeit zu Zeit heimsuchen.

Hinter dieser Theorie verbirgt sich natürlich auch das literarische Programm von Norbert Zähringer. Bereits in seinem viel gelobten Debüt "So" hatte der 1967 geborene Schriftsteller mit dem unwahrscheinlichen Aufeinandertreffen unterschiedlicher Personen in einer Ostberliner Bankfiliale experimentiert.

In seinem zweiten und neuen Roman "Als ich schlief" erhebt er nun den Zufall endgültig zum Erzählprinzip. Die abenteuerliche Flucht Ismaels aus seiner Heimat ist dabei nur einer der zahllosen Handlungsfäden, die Zähringer zu einem losen Strang zusammenführt. Im Laufe der knapp 300 Seiten begegnet man nicht nur den Insassen einer russischen Nervenheilanstalt und einer feministischen Bobby-Ewing-Verehrerin, die den Spitznamen Miss Ellie trägt, sondern auch einem hochbegabten Laborschimpansen namens Shilo und dem Österreicher Josef Hutzinger, der in Amerika mit der Fast-Food-Innovation "Schnitzel on the stick" zum Millionär wird und dann noch einen Lebenshilfe-Bestseller schreibt. Und das ist erst der Anfang!

Auf den ersten Blick ist "Als ich schlief" also eine Sammlung absurder und zum Teil haarsträubender Geschichten, die Norbert Zähringer mit viel Geschick und einer gehörigen Portion Irrwitz aneinanderreiht. Paul Mahlow stößt zum Beispiel gleich zweimal auf Josef Hutzingers Ratgeber "Reich und glücklich in sechs Tagen", und in dem Altpapiercontainer, in dem der Afrikaner Ismael nach seinem Himmelssturz glücklicherweise landet, befinden sich ausgerechnet die gebündelten Ausgaben einer westdeutschen Illustrierten, dessen laszives Cover die kämpferische Miss Ellie als eindeutig "aggressiv" und "imperialistisch" entlarvt hatte.

Nach und nach jedoch wird dieses Netz der scheinbar beliebigen Verbindungen und Übergänge immer dichter – und vor allem düsterer. Im Zentrum von Norbert Zähringers Buch steht nämlich eine äußerst makabre Episode. Es ist die Geschichte des ehemaligen Nazi-Arztes Arnold Zumvogel, der bei seinen "wissenschaftlichen Experimenten" in Auschwitz unzählige Menschen in Kältebädern und in der Unterdruckkammer getötet hat – und der mittlerweile unter neuem Namen in den Vereinigten Staaten ein "Institut für angewandte und experimentelle Weltraummedizin" leitet. Auch dieser Zumvogel, der sich als Großvater des Erzählers entpuppen wird, findet sich schließlich in Berlin ein. Er hat in der Zeitung von Ismael gelesen und hofft nun, einen Beweis für seine einst im KZ grausam erarbeitete Hypothese des "Kälteschlafs" gefunden zu haben.

Man muss nur an den Streit um Thor Kunkels Roman "Endstufe" denken, um sich vorzustellen, was hier alles hätte schief gehen können. Norbert Zähringer ist ein großes Risiko eingegangen, als er ausgerechnet die Medizinverbrechen der Nationalsozialisten in seine verspielte Erzählung mit ihrem durchgehend belustigten Tonfall eingeflochten hat.

Merkwürdigerweise jedoch funktioniert es – und zwar vielleicht gerade deshalb, weil dieser nur scheinbar aus beliebigen Versatzstücken montierte Roman auch ohne die Bezüge auf das "Dritte Reich" bereits einen dunklen Sog entwickelt hatte. Der Zufall ist eben kein Spaß, und sogar Alp, der Physikstudent und große Theoretiker der Schicksalslosigkeit, muss eine gewisse Zwangläufigkeit der Ereignisse einräumen, als er nach einem tragischen Zusammenstoß mit den gewaltbereiten Anti-Amerika-Demonstranten in das gleiche Krankenhaus wie Ismael Khan eingeliefert wird. Er beginnt zu ahnen, dass er und die anderen handelnden Personen Teil einer Welt und einer Geschichte sind "aus der es kein Entrinnen" gibt – und so muss er selbst als Komapatient mit einem zum Grinsen verzerrten Gesicht weiterhin den auktorialen Erzähler geben.

Man darf hier ruhig an die Romane des großen amerikanischen Erzählers Kurt Vonnegut denken. In der deutschen Literatur passiert es allerdings nur selten, dass solche existentiellen Einsichten in einen leichten und auf verzweifelte Art auch noch komischen Roman verpackt werden. Norbert Zähringer ist tatsächlich eine Ausnahmeerscheinung.

Norbert Zähringer: "Als ich schlief"
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006
287 Seiten, 19,90 Euro