"Eine ganz spannende und rasante Zeit"

Gespräch mit Frank Frenkel und Heinz-Dieter Eisermann · 29.09.2010
Die innerdeutsche Grenze machte zwei kleine Gemeinden weltbekannt: Helmstedt und Marienborn. Hier war der wichtigste Autobahn-Übergang in die ehemalige DDR und nach Berlin. Die heutigen Bürgermeister, Frenkel und Eisermann, über das Leben im Zonenrandgebiet und aktuelle Perspektiven für die Region.
Jürgen König: Die deutsche Teilung machte zwei Orte für mehr als 40 Jahre weltberühmt: Helmstedt und Marienborn. Zwischen beiden Orten verlief die innerdeutsche Grenze. Was das konkret für Marienborn und Helmstedt bedeutete, wie sich die Orte seither entwickelt haben – darüber möchte ich gleich mit dem Bürgermeister von Helmstedt, Heinz-Dieter Eisermann, und mit Frank Frenkel, dem Bürgermeister von Marienborn, sprechen.

Heinz-Dieter Eisermann lebt seit 1952 in Helmstedt, ist seit 2003 Bürgermeister der Stadt. Guten Tag, Herr Eisermann!

Heinz-Dieter Eisermann: Guten Tag, Herr König!

König: Frank Frenkel wohnt seit 1996 in Marienborn, war von 2002 bis 2009 dort Bürgermeister. Dann gab es eine Gemeindegebietsreform. Seit 2010 ist Frank Frenkel nun Bürgermeister der Verbandsgemeinde Obere Aller. Eine Gemeinde davon ist Sommersdorf. Und ein Ortsteil von Sommersdorf ist Marienborn. Guten Tag, Herr Frenkel!

Frank Frenkel: Ich grüße Sie, Herr König!

König: Herr Frenkel, Ihre Frau lebte schon zu DDR-Zeiten in Marienborn. Was hat Sie Ihnen vom Leben an der Grenze erzählt, wie haben Sie selber diesen Grenzort damals erlebt?

Frenkel: Das ist richtig, meine Frau lebte und besser gesagt, sie ist ja dort aufgewachsen. Sie ist 1963 geboren. Und 1984 verschlug es mich dann nicht nur nach Marienborn, sondern die Liebe verschlug mich auch dorthin. Nur war es für mich natürlich sehr schwierig, meine Liebe denn auch tatsächlich täglich zu besuchen. Bekanntermaßen durfte man ja nach Marienborn nicht so ohne weiteres einreisen. Ich betone, einreisen. Man musste in der Tat dann auch entsprechend bei den Behörden in der DDR die entsprechenden Einreisegenehmigungen in das Sperrgebiet beziehungsweise Grenzgebiet beantragen.

König: Was für eine Atmosphäre herrschte dort in dem Ort?

Frenkel: Also die Atmosphäre war natürlich so, dass man auch etwas argwöhnisch vielleicht oder auch missgläubig, so hatte ich zumindest anfänglich das Gefühl, beäugt wird. Die Leute kannten sich ja logischerweise. Jeder Besuch, der reinkam, war angemeldet und fiel logischerweise als Neuer, Nicht-Dahingehörender sofort auf.

König: Es konnte sich doch auch, soweit ich das mir vorstelle, eigentlich keiner unbemerkt im Ort bewegen.

Frenkel: Das ist in der Tat so. Also man hatte auch das Gefühl, dass sich das eine oder andere Mal auch die eine oder andere Gardine bewegte, wenn man auf der Straße vorbeigegangen ist, um zu gucken, was ist das für einer, was macht der hier, was hat der hier eigentlich zu suchen… Aber grundsätzlich, darf ich auch sagen, hatte ich dann nach einem kurzen Kennenlernen der Mentalität der Menschen in Marienborn, dieser Region, das Gefühl, dass sie irgendwo doch sehr eng beieinanderstanden, nicht wie in einer Großstadt anonym, sondern sehr eng beieinanderstanden.

König: Herr Eisermann, Helmstedt gehörte zum sogenannten Zonenrandgebiet. Wie lebt es sich unmittelbar neben Stacheldraht und Todesstreifen?

Eisermann: Ja, es war natürlich damals eine unschöne Situation hier für uns in Helmstedt. Wir waren zwar Zonenrandgebiet, wurden auch entsprechend, sage ich mal, gefördert aus Mitteln aus der Zonenrandförderung, aber … Die Grenze haben wir zwar wahrgenommen, sie war ja da. Wer nach Westberlin wollte, musste ja über die Grenze hier einreisen und wurde dann … auf der Transitstrecke Richtung Berlin fuhr man dann. Wir haben natürlich oft an der Zonengrenze gestanden und haben gesagt, es wäre schön, wenn die Grenze sich mal öffnen würde. Aber hier hat, glaube ich, so richtig keiner damit gerechnet, dass es doch irgendwann passieren würde. Und dann ist es 1989 eben doch passiert. Und das war, meine ich, eine tolle Sache.

König: Was bedeutete diese neue Freiheit, also Fall der Mauer, Öffnung der Grenzanlagen, Wiedervereinigung – was bedeutete diese neue Bewegungsfreiheit für die Bewohner in Helmstedt? Frage an Herrn Eisermann, und dann auch Frage an Herrn Frenkel in Marienborn.

Eisermann: Ja, wir hatten jetzt natürlich keine Probleme mehr. Das heißt, ich gehöre einem Wanderverein auch an hier in Helmstedt. Und wir hatten jetzt auch die Möglichkeit, sage ich mal, Wanderungen nach Sachsen-Anhalt zu machen. Wir haben mit dem Wanderverein zum Beispiel in Haldensleben sehr gute Kontakte, und richten zumindest auch meistens am Tag der Deutschen Einheit, also am 3. Oktober, wenn es dann auf einen Sonntag fällt, Wanderungen aus. Einmal sind wir dort in Haldensleben, oder die Haldensleber sind bei uns. Also das ist eigentlich eine gute Sache inzwischen und hat sich also auch seit Jahren jetzt eigentlich so bewährt.

König: Herr Frenkel, wie haben Sie diese Umbruchzeit erlebt?

Frenkel: Wie habe ich die erlebt? Das war eine ganz spannende und rasante Zeit, darf ich mal gleich vorweg stellen. Und es war auch mit dem einen oder anderen Hindernis zu rechnen, Hindernis – ich komme darauf zurück. Natürlich war jeder jetzt so schnell wie möglich bestrebt, auch mal in den Westen zu gelangen. Viele waren auch noch misstrauisch, ob das auch von langem Bestand ist. Also waren viele bemüht, so schnell wie möglich auch mal zu schnuppern, ob das wirklich alles stimmt, was sie gehört haben von Verwandten, von Bekannten, was sie auch im Fernsehen möglicherweise verfolgen konnten.

Hinderlich, wenn ich das sage, war die Anreise. Ich wohnte damals noch in Magdeburg und hatte die aberwitzige Idee gehabt, einmal über die Autobahn A2 mal schnell nach Helmstedt zu fahren. Es gelang mir nicht, weil der Stau selber war wohl weit in Richtung Berlin, über Magdeburg bis hinter die Elbe. Dann bin ich praktisch über Umwege, Schleichwege über die Dörfer habe ich mich dann vorgekämpft und bin dann irgendwann in Morsleben gelandet über die B1. Das war ganz interessant und witzig, dort stand tatsächlich als Abfertigung, als Notspur für die eigentliche Grenzübergangsstelle in Marienborn ein Zelt aufgeschlagen, wo dann Grenzsoldaten standen, die uns dann da abgefertigt haben. Es war eine ganz spannende Kiste, zumal die Straße damals auch noch gar nicht ausgebaut war, das war so ein besserer Feldweg.

Ja, aber wie gesagt, für die Menschen selber bedeutete es natürlich das Gefühl, Reisefreiheit auszuleben, generell Freiheit auszuleben, nicht mehr eingesperrt zu sein. Für meinen Marienborn bedeutete es aber auch, dass Marienborn als Ort, damals auch eigenständiger Ort, in den Anfangsjahren – ab '89, '90 bis so Mitte 90er-Jahre – natürlich sehr viele Einwohner und Anwohner und Menschen sich dann natürlich auch aus Marienborn weggezogen haben, der Arbeit hinterher gereist und dort auch wohnhaft geworden sind.

König: Gab es Gedanken, Empfindungen, nachdem die erste Euphorie abgeklungen war, dass die alte Situation auch Vorteile gehabt hatte, also dass man sich im Falle Helmstedts mit der Zonenrandförderung, im Falle Marienborns mit diesem, sagen wir abgeschotteten, auch geschützten Leben ganz gut arrangiert hatte, und nun plötzlich einer Zugluft, einem Veränderungsdruck sich ausgesetzt fand, der vielen vielleicht auch unangenehm war?

Eisermann: Also das kann ich für Helmstedt meine ich nicht sagen. Also wir waren wirklich froh, denn die Zonenrandlage hat uns ja nun sicherlich nicht unbedingt nur Vorteile geschaffen. Die Förderung – so gravierend war die auch nicht. Also ich bin der Meinung, wir waren froh, dass die Grenze gefallen ist, und wir uns, sage ich mal, räumlich nicht mehr hier beschränken mussten bis zur Zonengrenze, sondern wir konnten jetzt hinfahren Richtung Sachsen-Anhalt oder Richtung Berlin.

Man brauchte keine Angst mehr haben vor irgendwelchen Kontrollen und so weiter, egal, ob man mit dem Zug damals gefahren ist oder mit dem Auto. Man hing ja immer irgendwo in Marienborn erst mal fest und hatte Angst, hoffentlich findet keiner irgendwas, das nicht durchkommt oder was. Man hatte immer ein komisches Gefühl, sage ich mal, wenn man über die Grenze ging.

König: Herr Frenkel?

Frenkel: Ich möchte das für Marienborn und auch generell für unsere Region eigentlich nur bestätigen, was mein Kollege Herr Eisermann eben sagte. Ich würde es vielleicht auch noch dahingehend erweitern wollen, dass – was ich persönlich dann spürte, vornehmlich auch in dieser Region, in Marienborn –, dass sehr viele Menschen, auch vor allem sehr junge Menschen, sich sehr schnell dann mit einbringen wollten, die Demokratie bei uns auch tatsächlich einführen wollten, mitgestalten wollten, dabei sein wollten, Dinge bewegen und es optimalerweise auch auf Dauer zu erhalten, was ja auch Gott sei Dank geschafft werden konnte. Immerhin 20 Jahre. Wenn man jetzt das alles mal Revue passieren lässt: Wo sind eigentlich die letzten 20 Jahre geblieben? - würde ich beinahe sagen wollen.

König: Welchen Bezug, Herr Frenkel, hat Marienborn heute zur Gedenkstätte an dieser ehemaligen GÜST, der Grenzübergangsstelle? Ich meine, als Grenzort war er stark von der Stasi überwacht. Gab oder gibt es Versuche, diese Geschichte im Ort aufzuarbeiten? Redet man darüber, ist das ein Thema?

Frenkel: Also ich kann nur sagen, mit allen Menschen, mit denen ich mich unterhalte, unterhalten habe, wird erst einmal begrüßt, dass diese menschenverachtende Anlage, Grenzübergangsstelle Marienborn, weitestgehend als Gedenkstätte erhalten bleibt, auch für die Nachwelt, wenn man das so sagen darf. Für die jungen Generationen, die sich darunter überhaupt nichts mehr vorstellen können. Meine Tochter ist 20 Jahre, die ist am 29.06.1990 geboren. Sie hat überhaupt keinen Bezug zu diesem alten Regime. Und von daher würde ich schon sagen, ist es ganz, ganz wichtig, diese Anlage als Zeitzeuge ganz einfach zu erhalten und zu bewahren.

König: Herr Eisermann, besuchen Sie manchmal die Gedenkstätte der Grenzübergangsstelle, der ehemaligen?

Eisermann: Also, ich bin oft da oben. Es finden ja auch Veranstaltungen statt, immer natürlich zum Tag der Deutschen Einheit. Es finden auch sonst Veranstaltungen statt, irgendwelche Fotoreportagen, die dort ausgestellt werden.

König: Was geht Ihnen dabei durch den Kopf, wenn Sie das sehen oder da die Gänge durchschreiten?

Eisermann: Ja, ich kann eigentlich immer nur sagen, wie schön es ist, dass das nicht mehr vorhanden ist, im Grunde genommen nur noch als Museum praktisch. Aber wichtig ist es natürlich, insbesondere hier, sage ich mal, die Jugendlichen heranzuführen, dass man immer daran erinnert wird, wie es mal gewesen ist. Und dass jeder sagt, also so soll es nicht wieder sein, wie es mal war.

König: Vielen Dank! Über die ehemaligen innerdeutschen Grenzorte Helmstedt und Marienborn, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung – ein Gespräch mit Frank Frenkel, dem Bürgermeister von Marienborn, und Heinz-Dieter Eisermann, dem Bürgermeister von Helmstedt. Meine Herren, ich danke Ihnen!

Frenkel: Herzliche Grüße noch mal an Helmstedt!

Eisermann: Auch an Sie, Herr Frenkel!
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