Eine folgenschwere Reise

Von Michael Hollenbach · 23.07.2011
Im Jahr 1511 reist ein junger Augustinermönch namens Martin Luther aus der deutschen Provinz im Auftrag seines Ordens in die Stadt der Päpste und Märtyrer. Später wird er Rom einen "Sündenpfuhl" nennen. An welche Orte sich Luther begab, hat Michael Hollenbach herauszufinden versucht.
"Wir stehen hier vor dem Forum Romanum, das zu Luthers Zeiten noch Kuhweide war, durch den Zusammenbruch der römischen Stadt blieben zwei Drittel der Substanz völlig brach, man pflanzte Artischocken an, weil die wohl mit einem starken Kalkgehalt gut wachsen."

Der Kunsthistoriker Allessandro Canestrini kennt sich aus. Sein Verein "Roma Culta" bietet Touristenführungen auf Luthers Spuren an. Damals, 1511, war Rom nur noch ein Schatten seiner antiken Größe. 40.000 Einwohner. Weite Flächen innerhalb der alten Stadtmauern waren Ruinenfelder.

"Es war eine Zeit des großen Wandels, es ist der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit, die natürlich hier beginnt, früher als anderswo."

Für die Antike hat Luther wenig übrig. Die Ruinen und verfallenen Gemäuer sind für ihn ein Zeichen für Gottes Sieg über das römische Heidentum. Dennoch ist für den jungen Mönch aus der Provinz Rom so etwas wie eine Weltstadt, – die ihn auch gehörig erschreckt haben dürfte:

"Es war immer schon eine chaotische Metropole. Die Stadt war viel unsicherer als heute, chaotisch."

Michael Matheus, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, hat sich intensiv mit Luthers Romreise und den römischen Verhältnissen Anfang des 16. Jahrhunderts beschäftigt:

"Ein zentrales Ergebnis ist sicher, dass man sich dieses Rom um 1510 oder generell im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts vor dem Sacco di Roma, dem Überfall deutscher Landsknechte und spanischer Söldner auf Rom - als aufregende, kulturelle und intellektuelle Schmiede vorstellen muss, in dem nicht nur die Deutschen verweilen, nicht nur die Römer, in dem sich viele aus aller Welt aufhalten."

Wann genau Luther sich in Rom aufhielt, ist umstritten. Bislang waren die Historiker überzeugt, dass der Augustinermönch im Winter 1510/11 im Rom war; neuere Forschungen datieren seinen Aufenthalt ein Jahr später – vom November 1511 an. Michael Matheus:

"Die bisherige Datierung ging davon aus, dass Luther als einer der Opponenten zu seinem Oberen von Staupitz hier an die Kurie entsandt worden ist. Die neuere Datierung geht davon aus, dass er nicht gegen Staupitz nach Rom gereist ist, sondern im Auftrag von Staupitz."
Doch noch sind alle Datierungsversuche nur Hypothesen; sicher ist nur, dass er in Rom war, und zwar im Augustinerkloster in der Nähe der Piazza del Popolo.

"Denn es gibt unter anderem eben auch Hinweise darauf, dass in diesem Konvent zu diesem Zeitpunkt eine Reihe von Deutschen Mitglieder waren."

In Rom muss Luther gelitten haben – zum Beispiel an der oberflächlichen Art, wie hier die Messen gefeiert wurden. In der Sebastiansbasilika zelebrierten zwei Priester am selben Altar gleichzeitig zwei Messen – nur durch ein Gemälde getrennt. Innerhalb einer Stunde wurden hier sieben Messen heruntergebetet. Jahrzehnte später erinnert sich der Reformator:

"Es ekelte mich sehr, wie sie so fein rips raps die Messe halten konnten, als trieben sie ein Gaukelspiel. Denn ehe ich zum Evangelium kam, hatte mein Nebenpfaffe schon eine Messe zu Ende gebracht und schrie mir zu: passa, passa, immer weg, mach Schluss."

Doch der Historiker Michael Matheus ist skeptisch, ob Luther bereits 1511 so kritisch auf Rom blickte oder ob der "Schleier der Erinnerung" seine Sicht trübte:

"Er hat später vor allem in den Tischreden diese Romreise immer wieder stilisiert als ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg zur Reformation. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, dass das im Jahr 1511 schon eine Rolle gespielt hat, sondern das, was wir gesichert sagen können, dass er als bußfertiger Mönch das heilige Rom aufgesucht hat wie das Tausende vor ihm, mit ihm und nach ihm getan haben."

Doch begeistert von dem, was er da in den Gotteshäusern sah, war der junge Augustinermönch wohl kaum. Zum Beispiel von der Kirche Santa Maria del Popolo, in der die Gräber der Papstfamilie della Rovere zu finden sind. Allessandro Canestrini deutet auf das Portal der Kirche.

"Auf jeden Fall sehen wir rechts und links als Wappenhalter zwei nackte Eroten, das sind jetzt keine Engel oder beflügelte Putten, das sind Eroten, Kinder des Liebesgottes Eros, die mit einem leicht ausladenden Bauch als Wappenhalter dienen. Es ist doch interessant zu fragen, wie Luthers Einstellung zu dieser Nacktheit war."

Die Antwort liegt auf der Hand, klagt Luther später doch über die römische Kirche als Hure Babylons und über die heilige Stadt als Sündenpfuhl. Mitverantwortlich für diese Sicht der Dinge war wohl auch Papst Sixtus IV., der mit den Einnahmen aus der Prostituiertensteuer eine nach ihm benannte Brücke über den Tiber baute. Oder Papst Alexander VI. mit seinen Kurtisanen.

"Ein paar Jahre vor Luthers Kommen schmückte sich die Lieblingskurtisane eines Papstes, die eine Herberge für Pilger führte, schmückte sich mit einer Inschrift: 'Kommt zu mir, ich bin die Lieblingshure des Papstes.' Das war die Mutter der drei anerkannten Kinder des Alexander VI. Borgia. Die Schilderungen über die päpstlichen Orgien im Vatikan dürften auch Luther zu Ohren gekommen sein."

Luther, der etliche Wochen in Rom weilte, hat auch das aufblühende Kulturleben kennengelernt – die Päpstliche Kapelle war damals das Nonplusultra der geistlichen Musik. Angesagt waren in den Kirchen vor allem mehrstimmige flämische Gesänge. Und in den Palästen lauschte das Publikum weltlicher Musik, zum Beispiel der Frottola, einer vielstimmigen Renaissancemusik, die Anfang des 16. Jahrhunderts in Rom en vogue war.

Als bußfertiger Mönch hat sich Luther aber vor allem auf sein Pilgerprogramm konzentriert. Für ihn stand, zumindest als er in Rom ankam, die Heiligkeit der Papststadt noch außer Frage:

"Sei gegrüßt, du heiliges Rom, wahrhaftig heilig von den heiligen Märtyrern, von deren Blut es trieft."

Er kroch – wie damals unter Pilgern üblich – die Scala Sancta hoch. Diese Heilige Treppe stammt angeblich aus Jerusalem, auf ihr soll Jesus zu Pilatus geführt worden sein. Kurz vor seinem Tod berichtete Luther:

"So wollte ich in Rom meinen Großvater aus dem Fegefeuer erlösen, ging die Treppe des Pilatus hinauf, betete auf jeder Stufe ein Vater unser. Es herrschte nämlich die Überzeugung, wer so betete, erlöse seine Seele. Aber als ich oben ankam, dachte ich: Wer weiß, ob es wahr ist."

Ein weiterer Programmpunkt für jeden frommen Pilger: Man musste an einem Tag die sieben Patriarchalkirchen aufsuchen und dort eine Messe feiern. Der Kunsthistoriker Allessandro Canestrini:

"Er besuchte Santa Maria Maggiore, eine große Pilgerkirche aus dem 5. Jahrhundert, eine wichtige Marienkirche. Von da aus ging der Weg vom Esquilinhügel wieder runter in Richtung Innenstadt, die ganze Innenstadt wurde dann durchquert, und man ging dann über die Engelburg eben Richtung St. Peter."

Luther erlebte Anfang des 16. Jahrhunderts den Baubeginn des heutigen Petersdoms. Michael Matheus, der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom:

"Martin Luther hat die große alte Konstantinsbasilika noch gesehen, zum Teil im Abräumen begriffen, er hat das große Alte gesehen und das Neuentstehende gesehen. Es ist noch nicht die Stadt der Renaissance, wie wir sie kennen, schon gar nicht die Stadt des Barock, aber es ist die Stadt, in sehr viel an Umwälzung passiert."
Der Bau der neuen Peterskirche verschlingt Unsummen und treibt den Ablasshandel voran. Mit dem Verkauf so genannter Ablassbriefe, die Gläubige vor dem Fegefeuer retten sollen, will der Papst unter anderem das vatikanische Gotteshaus finanzieren. Für Luther ein Grund, sich in seinen 95 Thesen im Jahr 1517 dagegen zu wenden:

"Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Crassus, nicht wenigstens die eine Kirche St. Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen Gläubigen?"

Der Ablasshandel als ein Baustein zur Finanzierung des Petersdoms wurde so zu einem Anlass für die Reformation; zugleich – so Allessandro Canestrini – hatte die Reformation indirekten Einfluss auf den Baustil des Petersdoms, der erst nach rund 120 Jahren fertig war.

"Wenn man in die Peterskirche hineingeht, hat man sofort den Eindruck, es geht den Päpsten um sehr viel mehr als nur um Andacht, St. Peter ist die in die Kunst umgesetzte Gegenreformation, da steckt ein logisches Konzept dahinter: Ecclesia triumphans, die sich selbst feiernde Kirche, sie muss zeigen, dass sie die Reformation gut überwunden hat, das ist die Message."

Auch wenn unstrittig ist, dass Luthers Rombesuch nicht der Grund für seinen Widerspruch gegen den Papst war, misst Canestrini der Reise doch eine gewisse Bedeutung zu:

"Geschichte kann man nicht mit Wenn und Aber schreiben, aber es ist trotzdem interessant: Wäre Luther ein paar Jahre früher gekommen, hätte Alt-St-Peter noch gestanden, der Ablasshandel wäre nicht so brutal gewesen, vielleicht hätte es nicht einen so radikalen Martin Luther gegeben."