"Eine Bewegung, die die Bevölkerung irgendwie beeindruckt"

Stéphane Hessel im Gespräch mit Christopher Ricke · 28.01.2011
Der frühere französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel hebt mit Blick auf die Ereignisse in Tunesien und Ägypten die Verantwortung für die Zeit nach einem Umsturz hervor. "In Ägypten wäre es ein enormer Fortschritt, wenn man den Mubarak loswürde", sagt Hessel.
Christopher Ricke: Es riecht nach Revolution in Nordafrika: In Tunesien ist der Machthaber aus dem Amt gejagt, in Ägypten gibt es zumindest erheblichen Protest. Wenn es schlecht ausgeht, siegt das Chaos, wenn es gut ausgeht, hat die Demokratie, hat der Neuanfang eine Chance.

Der erste Schritt ist getan, der Widerstand gegen die alten Mächtigen formiert sich, und ich habe über dieses Thema mit Stéphane Hessel gesprochen, der 93-jährige gebürtige Berliner kämpfte im Zweiten Weltkrieg in der französischen Resistance, er hat das KZ Buchenwald überlebt, er war französischer Diplomat, und er ist im Alter von 93 Bestsellerautor geworden. Sein Büchlein "Empört euch", das in Frankreich schon fast eine Million Mal verkauft wurde, erscheint bald auch in Deutschland.

Ich habe ihn gefragt, Herr Hessel, wie beurteilen Sie denn den Widerstand, den die Mächtigen in Nordafrika gerade erleben?

Stéphane Hessel: Ich halte es natürlich für einen sehr wichtigen Moment. Es ist noch schwer zu sagen, wie weit es gehen wird. Man kann wohl hoffen, dass in Tunesien die Revolution oder die Reform, was es auch immer ist, die Demokratisierung durchgeht, aber wie sieht es woanders aus? In Ägypten wäre es ein enormer Fortschritt, wenn man den Mubarak loswürde, aber das ist noch nicht bestimmt.

Es geht auch in Jemen jetzt, also es ist schon wirklich eine Bewegung, die die Bevölkerung irgendwie beeindruckt. Für uns, die außerhalb stehen und diese Sachen sich ansehen, ist es natürlich eine große Genugtuung, zu denken, dass es nicht nur die Regierungen sind, die sich verändern, sondern dass es wirklich die Völker sind.

Ricke: Es passiert ja etwas bei den Menschen. Es gibt diese Verzweiflung, die Wut, die Empörung. Die Menschen gehen auf die Straße, sie protestieren gegen die Lebensumstände, gegen die Perspektivlosigkeit, auch gegen die Bevormundung durch den Staat. In den letzten Jahren haben sich die Menschen aber in ihr Schicksal gefügt, jetzt ballen sie die Faust. Was ist da passiert?

Hessel: Wahrscheinlich ist irgendetwas zu weit gegangen. Die Völker nehmen gewisse Schwierigkeiten, gewisse Freiheitsentlagerungen nehmen sie mit, aber einmal geht es dann so weit, dass sie sich eben empören müssen. Sie können es nicht mehr aushalten, und dann geht etwas vor sich, was man gar nicht vorausbestimmen kann, dass es einen Erfolg gibt. Es kann sofort, es kann die Regierung wieder alles herunterbringen und die Leute in Gefängnisse zu setzen, aber manchmal ist eben das Unwahrscheinliche plötzlich wahrscheinlich geworden, und das scheint eben gerade in Tunesien der Fall zu sein.

Ricke: Diktaturen, egal welcher Art, nehmen Menschen die Freiheit, Freiheit heißt Selbstverantwortung. Wenn es nun zum Umsturz kommt, müssen die Revolutionäre ja auch Verantwortung übernehmen. Ist das die Pflicht des Revolutionärs?

Hessel: Das ist eine ganz besondere Pflicht, Sie haben ganz Recht. Es wäre gefährlich, wenn man sich nur empören würde und dann alles lassen, gehen lassen. Man muss schon die Verantwortung übernehmen, dass der Widerstand auch zu einer Eroberung der Demokratie wird, und das ist natürlich ein großer Auftrag. Man kann nie sicher sein, wie stark dann die Bevölkerung sein wird.

Es sieht so aus, als wäre gerade in Tunesien der Widerstand jetzt mächtig, aber wie weit wird er es aushalten? Das ist eben die Frage, und da müssen wir, wir Weltmitbürger, Weltbürger, die wir sind, wir müssen dazu unsere Unterstützung geben, dass die Werte, für die wir uns eingesetzt haben in einer oder der anderen geschichtlichen Zeit, dass diese Werte jetzt auch, wo sie von den Völkern verlangt werden, dass sie von ihnen errungen sein können.

Ricke: Wie können wir da helfen?

Hessel: Ich denke, wir können es mit Zuhören, mit Zuklatschen, nicht eingreifen, das ist nicht unsere Sache, aber wenigstens erfahren, wie die Sachen fortgehen, da ist die Presse, die Medien sehr wichtig. Wir müssen genau berichten, wo die Schwierigkeiten sind und wo auch die Fortschritte möglich sind. Dazu können wir uns einsetzen als Mitmacher, als Mitbürger, und zwar ohne die Bevölkerungen irgendwie zu unterstützen anders als mit zuhören und zusagen. Das Eingreifen gehört den Außenmenschen nicht.

Ricke: Es hilft der Blick in die Geschichte, manche müssen in die Geschichtsbücher schauen, Sie selbst haben es selbst erlebt. In der französischen Geschichte gab es den einen Mann, der die Empörten zusammengeführt hat, die Rechten und die Linken, gemeinsamer Widerstand wurde zur Pflicht. Der Mann war Charles de Gaulle. Wie wichtig ist so eine Integrationsfigur heute?

Hessel: Ja, und auch der wichtige Jean Moulin, nicht wahr, der die Widerstandsgruppen zusammengebracht hat und von ihnen sogar ein Programm erlangt hat, ein Programm: Wie soll es nach dem Krieg aussehen? Das war sehr wichtig, dass da die Werte, die Grundwerte der Demokratie vorher hergesetzt wären, sodass man schon wüsste: Was verlangt man von General de Gaulle, was soll er leisten, wenn es nach dem Krieg ihm die Regierung zuteilt? Das ist eben die Grundlage von allem wirklich nützlichen Widerstand, ein Widerstand darf nicht nur widerstehen, er muss auch etwas sich wünschen und etwas aussagen, wohin man gehen kann und gehen soll.

Ricke: Stéphane Hessel, der Buchenwaldüberlebende kämpfte in der Resistance, er hat den französischen Bestseller "Empört euch" geschrieben, der bald auch in Deutschland erscheinen soll. Der Verlag schreibt auf seiner Webseite, das Buch kommt am 8. Februar. Es hat 32 Seiten und wird vier Euro kosten.
Mehr zum Thema