"Eine Art Wunder"

Moderation: Holger Hettinger · 31.08.2005
Es sei "eine Art Wunder" gewesen, dass vor 25 Jahren in einem kommunistischen Land die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc gegründet werden konnte, meint der polnische Politologe Jercy Mackow in Deutschlandradio Kultur. Ihre Gründung habe letztlich auch den Weg der deutschen Wiedervereinigung vorgezeichnet.
Hettinger: Heute vor 25 Jahren haben Lech Walesa und der stellvertretende Minister Jagielski ein Abkommen unterzeichnet, das als Geburtsstunde von Solidarnosc gilt, der ersten freien unabhängigen Gewerkschaft im kommunistischen Herrschaftsbereich. Über die weitreichenden Folgen dieses Abkommens spreche ich nun mit dem Politologen Professor Jercy Mackow. Er lehrt an der Universität Regensburg und hat sich intensiv mit Solidarnosc beschäftigt. Herr Mackow, wie haben Sie den Sommer 1980 in Polen erlebt?

Mackow: Ich war damals Student und ergriffen von den Entwicklungen, über die wir damals allerdings im Süden oder im Zentrum des Landes nichts Offizielles mitbekamen, weil über dem Norden des Landes eine Nachrichtensperre verhängt worden ist. Trotzdem oder gerade deshalb kursierten Gerüchte und Informationen. Man hörte auch fleißig den Sender Freies Europa zu und erfuhr immer mehr über diese Ereignisse und vor allem über die Forderung, die freien Gewerkschaften zu gründen.

Hettinger: Sie waren damals junger Student. Wie haben Sie über diese Bewegung gedacht? Das war ja eigentlich zunächst ein Arbeiterstreik an der Danziger Lenin-Werft. Wie weit hat er im Sommer 1980 weitere Teile der polnischen Gesellschaft erfasst?

Mackow: Im August, als die Danziger Werft in den Ausstand trat, war es schon ganz klar, dass das keine reine Arbeiterbewegung ist, dass das schon in die Richtung einer nationalen Bewegung geht, was damit zusammenhing, dass Danzig eine Symbolstadt war, für die Unruhen des Jahres 1970 stand, die wiederum einen Führungswechsel an der Spitze der Kommunistischen Partei gebracht hatte 1970 und eine neue Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik, die in den siebziger Jahren kläglich gescheitert war. Insofern wussten alle, wenn Danzig streikt, dann ist das keine Angelegenheit eines Betriebes oder einer sozialen Schicht mehr.

Hettinger: Also große Aufmerksamkeit für diesen Streik. Solidarnosc wurde nach wenigen Monaten verboten, in Polen wurde das Kriegsrecht verhängt. Wie war es möglich, dass Solidarnosc diese Zeit überhaupt überlebt hat und 1989 dann die Macht erobern konnte?

Mackow: Ja, das war schon eine Art Wunder, auf Jahre verteiltes Wunder. Erstens ist es gelungen, die sowjetische Militärintervention abzuwehren beziehungsweise sie nicht aufkommen zu lassen. Das ist dem friedlichen Charakter dieser Bewegung zuzusprechen. In der Solidarnosc-Zeit ist keine einzige Scheibe in Polen zu Bruch gegangen. Die Gewalt ging ausschließlich von der Seite der Machthaber aus. Also es gab sozusagen keinen Anlass für die Sowjets einzumarschieren, die übrigens nicht einmarschieren wollten, weil sie damals noch mit dem Krieg in Afghanistan beschäftigt waren. Darüber hinaus war zweitens die Solidarnosc eine nationale Bewegung, so dass die Sowjets nicht wussten, ob sie im Falle des Einmarsches nicht mit einem Krieg in Polen zu rechnen haben, kurzum, ob sich die Polnische Volksarmee, so hieß sie damals, auf die Seite des Volkes nicht stellen würde. Also zum dritten muss man die westliche Hilfe betonen. Die ging damals eindeutig von den Vereinigten Staaten von Amerika aus. Der amerikanische Kongress hat, glaube ich, 50 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt, die beispielsweise für die Unterstützung des Untergrundes in Polen verwendet wurden. Also es wurden Kopiergeräte, Druckgeräte nach Polen geschmuggelt, so dass ein intellektuelles Leben im Untergrund toben konnte und eine freie Diskussion. Selbstverständlich der vierte Faktor, der das Überleben von Solidarnosc mitgarantierte, mitverantwortete, das waren die Aktivitäten und die Haltung von Johannes Paul II., der auch Polen 1983, also in der schlimmsten Zeit des Kriegzustandes, besuchen konnte und die Geister aufrichten konnte, und die sinnvolle Politik der Führung der Gewerkschaft im Untergrund an der Spitze mit Lech Walesa, der immer sagte, er wolle mit den Kommunisten über die Reformen im Lande, über die Überwindung der Krise sprechen, und sich immer gegen die Gewaltanwendung ausgesprochen hatte.

Hettinger: So wie Sie es beschreiben, sieht es wirklich so aus, dass Solidarnosc, dass die Ereignisse in Danzig keineswegs eine lokale oder polnisch nationale Bedeutung haben, sondern weit darüber hinausstrahlen in Ereignisse des Jahres 1989. Wir erinnern uns, dass DDR-Bürger die Berliner Mauer gestürmt haben, wenig später kommt es zur Wiedervereinigung. Welche Bedeutung hat die Solidarnosc in diesem Umfeld?

Mackow: Also die Solidarnosc - das darf man nie vergessen - war knapp zwei Jahre lang eine legale Organisation, eine, man kann paradoxerweise so etwas sagen, eine antikommunistische Organisation, die legal in einem kommunistischen Land existierte und 80 Prozent der Bevölkerung auf ihrer Seite hatte. Diese Organisation zu vernichten, konnte ohne einen Massenterror kaum gelingen. Diesen konnten sich die polnischen Kommunisten nicht leisten, weil sie wirtschaftlich pleite waren und mit dem Westen kooperieren mussten und wollten. In diesem Sinne war Solidarnosc ein Bruch im kommunistischen Block, im kommunistischen System insgesamt, zumal sie in einem Land operierte, das aus geostrategischen Gründen, aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen das zweitwichtigste in Osteuropa gewesen war. Sobald also die Solidarnosc die Macht in Polen übernommen hatte, hat sie sowohl den Weg vorgezeichnet für die anderen Länder als auch speziellen Bezug auf die Wiedervereinigung Deutschlands eine Brücke zwischen der Sowjetunion und der DDR vernichtet. Darin besteht ihre historische Rolle im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands, also einerseits haben die Sowjets in Polen einen Machtwechsel akzeptiert, womit anderen gezeigt worden ist, dies ist auch für die anderen Ländern möglich, und andrerseits, speziell auf Deutschland bezogen, konnten die Sowjets nicht mehr damit rechnen, dass sie beispielsweise ungehindert in der Zukunft ihre Truppe in der DDR werden erhalten können.

Hettinger: Also schon der Beginn eines Erdrutsches, indem ein gewisses politisches Gleichgewicht ins Wanken kam. Was hat denn das in der polnischen Gesellschaft bewirkt, diese Erfahrung: Jawohl, wir sind mit unserem Widerstand erfolgreich, es funktioniert ohne Blutvergießen, wir haben Stimme, wir haben Einfluss?

Mackow: Ja, das begann eben vor 25 Jahren. Die Menschen streikten zunächst in Angst. Sie wussten, dass geschossen werden kann. Sobald sie dieses Abkommen, das heute gefeiert wird, unterzeichnet haben, haben sie gesehen, dass sie etwas sind. Ich muss sagen, dass die Stimmung damals mich sehr erinnert an die Stimmung, die ich im Dezember des vorigen Jahres in Kiew erlebt habe. Da sind auch in Kiew auf mich Menschen zugegangen, die mich als einen Ausländer erkannt hatten und sagten: Wir sind kein Vieh, wir sind Menschen. Die gleiche Stimmung r Wiederentdeckung der unterdrückten Würde hatte man auch in Danzig und überhaupt in Polen Anfang der achtziger Jahre spüren können. Eine Gesellschaft, die diesen moralischen Wandel vollzogen hatte, eine solche Gesellschaft war nicht mehr in dem Zustand - das gilt auch für die Ukraine heute, unabhängig davon, wie der Westen oder dieses oder jenes Land dazu steht -, diesen Wandel kann man nicht mehr zurückdrehen.

Hettinger: Vielen Dank für das Gespräch!
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