Eine Alltagschronik von universeller Bedeutung

Von Sibylle Cramer · 02.02.2012
James Joyce "Ulysses" erschien am 2. Februar 1922 in Paris und gelangte sofort zu Berühmtheit. Sein Held, der Dubliner Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom, ist der bürgerliche Jedermann der modernen Massengesellschaft, dessen Dubliner Alltag sich in den mythischen Abenteuern des Odysseus spiegelt.
James Joyce' Ulysses ist ein Schlüsselroman der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts - das moderne Gegenstück zu Homers Odyssee. Es ist der Roman eines Tages und einer Stadt: Dublin am 16. Juni 1904. In 18 Kapiteln durchwandert sein Held, der Anzeigenagent Leopold Bloom, den städtischen Kosmos, von acht Uhr früh bis weit nach Mitternacht. Morgens nimmt er an der Beerdigung eines Freundes teil:

Ein Ministrant trat aus einer Tür ... Der weißbehemdete Priester kam ihm nach ... ein kleines Buch balancierend vor seinem Krötenbauch. Wer liest uns den Schmeh? Ich, sprach die Kräh. Sie machten am Katafalk halt, und der Priester begann aus seinem Buch zu lesen ... Pater Coffey. Ich wusste es doch, sein Name klang nach Koffer irgendwie.

Im Takt der werdenden und vergehenden Zeit zieht eine unendliche Prozession von Bildern, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen haltlos, flüchtig an uns vorüber, ohne zum Gesamtbild eines Augenblicks eingeschmolzen zu werden. Auf diese Weise entsteht der Eindruck fließender Zeit, eines lebendig pulsierenden Lebens, das im Bewusstsein des Helden gespiegelt wird. Joyce' Stilmittel des inneren Monologs vermittelt den Eindruck vollkommener Gegenwärtigkeit.

Muskulöser Christ ... Platzt noch mal allseits aus den Nähten wie ein Schaf im Klee ... bei so einem Bauch, wie ein vergifteter Köter ... Pfff: Allseits aus den Nähten platzen. - Non intres in iudicium cum servo tuo, Domine. Kommen sich gleich wer weiß wie viel wichtiger vor, wenn Latein über ihnen gebetet wird. Requiem. Trauerschleier ... Auch die Augen wie bei einer Kröte. Was bläht den Mann bloß derart auf? Molly kriegt Blähungen immer nach Kohl ... Die Kniescheibe tut mir weh. Aua. So ists besser ...

Die Szene beleuchtet Blooms Außenseiterexistenz als Jude. Die christliche Zeremonie verwandelt sich im Spiegel seiner sensorischen und assoziativen Reflexe in ein absurdes Spektakel. Mitten in der religiösen Persiflage vollzieht der Autor den Brückenschlag über Jahrtausende hinweg zu Vergil und Homer. Im Bild vom "vergifteten Köter" steckt die Beschreibung des vergifteten Höllenhundes in der Aeneis, die ihrerseits eine Anspielung auf Odysseus' Hadeswanderung und seine Rückkehr ins Leben ist.

Zurück in die Welt, dem Leben wiedergegeben. Für diesmal reichts einem wieder. ... Viel noch zu sehen, zu hören, zu fühlen. Lebendige warme Wesen nah sich fühlen. Lasst die hier doch schlafen in ihren madigen Betten. Mich kriegen sie nicht dazu ran, mich nicht. Ich bin für die warmen Betten: warmes blutvolles Leben.

Jedem Kapitel des Romans ordnet Joyce eine Episode der Odyssee zu. Dabei bringt das erzählerische Material seine eigene Erzähltechnik hervor. Höhepunkt der Formspielkunst des Autors ist die Stilparodie des 14. Kapitels, in dem sich in sprachlicher Analogie zu einer Entbindung die Entwicklung der englischen Prosa vom Altenglischen bis zum modernen Slang vollzieht.

Der Roman über den Dubliner Kleinbürger ist der Ausnahmefall einer Alltagschronik von universeller Bedeutung. Doch bleibt Joyce bei aller Beziehungs- und Sinnfülle seines Erzählens Realist. Sein Held bewegt sich millimetergenau auf dem Stadtplan Dublins. Man werde die Stadt, sollte sie eines Tages vom Erdboden verschwinden, anhand des Ulysses exakt wieder aufbauen können, hat Joyce bemerkt.

Joyce versuchte vergeblich, das Werk in einem englischsprachigen Land zu veröffentlichen. Die englischen Drucker verweigerten wegen Anstößigkeit des Textes seinen Druck. Aus dem gleichen Grund beschlagnahmte die Post in den USA, wo ab 1918 fortlaufend Textauszüge in der Zeitschrift "Little Review" erschienen waren, mehrere Ausgaben. In einer vollständigen Ausgabe erschien der Roman erstmals am 2. Februar 1922 in Paris. Fünf Jahre später folgte die erste deutsche Übersetzung Georg Goyerts.