Eindrucksvolles Gesellschaftspanorama

10.09.2012
Johann Holtrop ist ein Karrierist und Stehaufmännchen: Steile Karriere in der Wirtschaft, schmerzhafter Fall, Wiederaufstieg, noch tieferer Fall. Wer will, kann in dem Roman Parallelen zu realen, prominenten Unternehmensführern finden.
Dieser Holtrop fetzt. Ein Macher, ein Visionär, ein machiavellistischer Manager der neuen Generation, weltoffen, sportlich, energiegeladen, inspirierend. Fast ein Rockstar. Er kommt, sieht und nimmt die Dinge in die Hand, egal ob in den USA, Fernost oder an dem etwas düsteren Standort im thüringischen Krölpa. Johann Holtrop, der Held in Rainald Goetz‘ gleichnamiger Befindlichkeitsstudie der Nuller Jahre, ist mit einem narzisstisch aufgeblähten Ich ausgestattet, wie es dem Stil der Zeit entspricht.

Sogar der alte Assperg, Patriarch eines traditionsreichen Medienkonzerns im westfälischen Schönhausen, der viele Ähnlichkeiten mit Bertelsmann aufweist, ist von Holtrop geblendet. Dass dabei der ein oder andere Untergebene über die Klinge springt, in manchen Tätigkeitsfeldern mit unlauteren Methoden operiert wird und Holtrop regelmäßig kleine Pillen einwirft sind Schönheitsfehler, nicht der Rede wert. Auf den rasanten Aufstieg des Johann Holtrop folgt zwangsläufig sein Fall. Er rappelt sich sogar noch ein zweites Mal hoch, um dann umso heftiger erneut abzustürzen. An seinem Beispiel zeichnet Goetz nicht nur die Mechanismen des Turbo-Kapitalismus nach, sondern liefert zugleich eine Anamnese der bundesrepublikanischen Verhältnisse. Der Befund ist beängstigend.

Auch wenn Johann Holtrop in manchem an den ehemaligen Bertelsmann-Star Thomas Middelhoff erinnert, geht es Goetz doch vor allem um den Typus: Welche Fertigkeiten sind von Nöten, welche Herrschaftstechniken, um in der Wirtschaft zu reüssieren? Wer will, kann in dem Roman nach Realien fahnden und karikaturesk verzerrte Wiedergänger von Reinhard Mohn, Liz Mohn, Friede Springer, Hubert Burda, Leo Kirch und vielen anderen identifizieren.

Etliche bekommen auch unter Klarnamen ihr Fett weg, wie André Heller, der bei einem von ihm inszenierten Empfang Zwerge mit Federfächern auftreten lässt. Faszinierend sind Rainald Goetz‘ Schilderungen der Geschäftswelt, die viel zu selten Gegenstand der Literatur ist und derartig zugespitzt zuletzt bei Ernst Wilhelm Händler in Wenn wir sterben (2001) zur Darstellung kam.

Das oft beschworene Multitasking und die religiös verehrte Schnelligkeit entpuppen sich als pathologische Zustände. Mit analytischer Präzision durchdringt der Autor seine Figuren und behandelt Holtrop, den Medienmacher Leffers oder den kreativen Finanzberater Mack wie Ausprägungen einer neuen Spezies. So zeichnet sich Holtrop durch eine vollkommene Ablehnung der Vergangenheit aus und lebt im Wahn der totalen Gegenwart. Der "Entscheidungshysteriker" Holtrop besitzt zwar einen gewissen Verkaufsinstinkt, ist aber unfähig, die eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren. Als er von Assperg entlassen wird, fällt er ins Nichts. "Die Macht war weg. Der Rand war weg, der Widerstand, er selbst." Der Schluss von Johann Holtrop ist allzu erwartbar und ein bisschen zu lapidar erzählt. Dennoch: Goetz gelingt ein eindrucksvolles Gesellschaftspanorama. Zeitgemäßer kann ein Roman nicht sein.

Besprochen von Maike Albath

Rainald Goetz: "Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft"
Suhrkamp, Berlin 2012
343 Seiten, 19,95 Euro
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