"Ein Zwitter ist nicht per se krank"

Moderation: Holger Hettinger · 20.03.2006
Elisabeth Müller, Mitbegründerin der Selbsthilfegruppe "XY-Frauen", ruft Ärzte auf, Intersexuelle in Ruhe zu lassen. Die Mediziner würden den Hermaphroditen Störungen unterjubeln und mit ihren Behandlungen Verbrechen an den Intersexuellen ausüben, sagte Müller im Deutschlandradio Kultur. Sie forderte weiter, Hermaphroditen als eigenes Geschlecht rechtlich und gesellschaftlich anzuerkennen.
Hettinger: Elisabeth Müller, wir haben eben gehört, dass die Medizin als Zielvorstellung hat, den Zwitter zu vereindeutigen, also dass die Gesellschaft quasi mit dieser Eindeutigkeit in irgendeiner Form umgehen muss, irgendwie umgehen will. Wie geht es Ihnen dabei, mit diesem dritten Geschlecht?

Müller: Ja, mir kann es damit ja gar nicht gehen, weil es gibt ja noch kein drittes Geschlecht. Und das ist eigentlich eine - das ist nicht eigentlich - das ist eine Unmöglichkeit. Denn wir werden ja von Natur aus so geboren, wie wir sind. Und man kann ja nicht einfach irgendeinen Menschen verändern. Diese geschlechtsverändernden Operationen sind kriminelle Akte. Also das ist so, die Besonderheit eines intersexuellen Menschen wird vernichtet und das ist Sozialmord ganz eindeutig.

Hettinger: Weil dann eine gewisse Normung hervorgerufen wird, die von dieser Bipolarität ausgeht, hier der Mann, dort die Frau, und dazwischen darf es nichts geben?

Müller: So ist es. Also in unserer Gesellschaft sieht es ja so aus, dass eigentlich der Normalfall Mensch ein Mann ist, und dann ist die Restkategorie Mensch eine Frau. Und dann gibt es keine Menschen mehr. Beziehungsweise wenn dann jemand einen Körper hat, der nicht Mann oder Frau ist, dann ist das ein Katastrophenfall. Insofern ist das ganz klar, dass bei den XY-Frauen, die ich damals mitbegründet habe, lange Zeit das Böse Z-Wort grassierte, Z-Wort für Zwitter, das böse Wort. Und das darf natürlich nicht sein. Aber das hat sich inzwischen etwas geändert. Das Selbstbewusstsein der Zwitter ist etwas stärker geworden. Und das ist auch dringend nötig. Denn viele bringen sich um, weil sie in dieser Gesellschaft nicht leben können. Jeder fünfte Zwitter bringt sich um. Das darf nicht sein. Das ist inhuman. Und die Ärzte üben Verbrechen an uns aus mit ihren Behandlungen - "Behandlungen" in Anführungsstrichen. Die Störungen, die sie uns unterjubeln. Es fragt sich, wer stört wen. Die Ärzte stören sich an unseren Körpern, warum? Und deswegen reden sie von Störungen der Geschlechtsentwicklung, auch die Psychologin eben. Wen stören wir? Ich störe keinen Menschen. Ich rede den ganzen Tag darüber. In meinem ganzen beruflichen Umfeld sage ich, ich bin Zwitter. Keiner stört sich daran, nur Ärzte und Politiker.

Hettinger: Es war ja eben auch in dem Beitrag zu hören, dass die Wissenschaft da im Prinzip noch am Anfang steht und dass eine große Unsicherheit existiert, wie mit dem Phänomen der Intersexualität umzugehen ist. Auch in dem Forum "XY-Frauen", das sie mitbegründet haben, gibt es ja eine Vielzahl der Facetten. Sie haben gerade eben vom schlimmen Z-Wort gesprochen. Da gibt es manche, die sich wirklich gegen diesen Begriff Zwitter wehren mit Händen und Füßen, andere wiederum gehen da äußert lässig und fast schon gleichgültig damit um. Wie ist denn so da Spektrum der Befindlichkeiten?

Müller: Das Spektrum der Befindlichkeiten ist eine Befindlichkeit, die sich entwickelt. Ich zum Beispiel gehe zwar schon locker damit um. Aber vor vielen Jahren habe ich mich noch als Monster gesehen. Und das war mir noch lieber, als dass ich mich gar nicht gesehen habe. Es ist besser, sich als Monster zu sehen, als überhaupt nicht existent zu sein. Das ist also im Grunde eine Zumutung, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln in einer Gesellschaft, in der Ärzte Zwitterkörper ermorden, also Zwitterseelen, Körper lassen sie ja noch. Aber wie - die Besonderheiten werden ermordet.

Hettinger: Was ist denn an Ihnen Mann und was Frau?

Müller: Das ist ja eine Frage, die ist - Entschuldigung, ich will Sie nicht beleidigen.

Hettinger: Etwas unverschämt, ich weiß.

Müller: Nein, die ist nicht unverschämt, die ist einfach dumm. Weil ich bin ja ein Hermaphrodit oder Zwitter. Also ich habe einen männlichen Chromosomensatz XY, ich leider hatte Hoden, ich bin ja kastriert worden, das ist ja auch eine der Maßnahmen, inzwischen habe ich eine heftige Osteoporose. Und die Hormone, die mir gegeben wurden, sind einfach für einen XY-chromosomalen Körper unpassend. Das sind Östrogene aus Pferdepisse, die kennt mein Körper nicht. Inzwischen habe ich zum Glück einen Endokrinologen gefunden, der mit Testosteron behandelt. Aber das ist ja …

Hettinger: … ein weites Feld. Ich habe es auch weniger auf die körperlichen Merkmale abgezielt, Elisabeth Müller, sondern auf die Befindlichkeit, so auf Ihr Selbst und auf Ihr Rollenverständnis.

Müller: Ich bin natürlich als Mädchen sozialisiert worden. Und lange Zeit habe ich mich dann als Frau gerne gesehen, zumal ich äußerlich immer weiblich aussah. Aber wohlgefühlt habe ich mich nie. Wie gesagt, ich habe mir keinen Namen gegeben, was Geschlecht anbelangt hat. Ich war froh, dass ich als Frau durchging. Aber das ist ja kein Selbstbewusstsein, das ist ja eine entwurzelte Existenz, die ja unwürdig ist eines Menschen. Es ist ein Tritt gegen die Menschenwürde.

Hettinger: Es gab eine Initiative, einen Vorstoß eines Intersexuellen, der versucht hat, mittels eines Prozesses einen Passeintrag zu erlangen, wo steht, Geschlecht Zwitter. Diesen Prozess hat er verloren. Was bedeutet eine solche Rechtssprechung für das Selbstverständnis von Intersexuellen?

Müller: Ja, dass wir halt noch keinen Personenstand haben. Wobei ich weiß, dass der entsprechende Richter sagte: "ja, Sie haben völlig Recht, Sie intersexueller Mensch" - Michel Reiter war das -, "aber wir können da im Augenblick gar nichts machen" Und ja, das kann ich nur dazu sagen, es ist Unrecht, dass wir keinen Personenstand haben und dass öffnet Tür und Tor eben für diese ja auch Verstümmelungen der Ärzte.

Hettinger: Wäre es eine Chance, wäre es eine Möglichkeit, durch ein "Outing" in Anführungszeichen, wie man es meinetwegen in homosexuellen Kreisen kennt, für Verständnis zu werben, für die einzelne Situation. Und warum hört man da so wenig?

Müller: Man hört so wenig, weil die meisten Angst haben und sich schämen. Denn keiner möchte ein Katastrophenfallmensch sein, wie ich anfangs schon sagte. Das ist einfach schlecht auszuhalten. Das kostet unheimliche Kraft. Alle reden davon, 80 Prozent ihrer Kraft geht drauf, um überhaupt als Mensch zu existieren. Dass dann überhaupt noch jemand ein berufliches Auskommen hat, ist eigentlich schon ein halbes Wunder bei manchen. Also das zeigt eigentlich nur, dass sie im Grunde recht stark sind die Zwitter. Aber es kostet unheimliche Kraft.

Hettinger: Wie würden Sie sich denn den Umgang wünschen in Ihrem Umfeld?

Müller: In meinem Umfeld habe ich keine großen Wünsche. Die haben alle keine Probleme. Ich wünsche mir nur Ärzte, die uns endlich in Ruhe lassen. Es gibt kaum Behandlungsbedarf bei Zwittern. Jeder Mensch kann krank werden, ob Mann, ob Frau und ob Zwitter. Aber ein Zwitter ist nicht per se krank. Und er ist auch nicht gestört. Die Ärzte sind gestört mit ihrer Einstellung. Sie haben eine Einstellungsstörung. Wir haben keine Störung der Geschlechtsentwicklung. Aber Ärzte haben eine Einstellungsstörung.

Hettinger: Und dieses medizinische Phänomen, wir haben es ja eben gehört, dass die Wissenschaft da sehr wohl nachdenkt und sehr wohl streitet, ist es möglich, hier auf diesen Prozess in irgendeiner Form Einfluss zu nehmen? Weil ich habe das Gefühl, gerade in diesem "XY-Forum" gibt es viele Ansätze, wie man auch versucht, das eigene Phänomen noch mal transparent zu machen, ohne jetzt zu sagen, jetzt lasst uns einfach nur in Ruhe und dann ist es gut.

Müller: Also ich kann nur sagen, mit der Wissenschaft, ich weiß nicht, meinen Sie damit Ärzte?

Hettinger: Zum Beispiel, ja.

Müller: Zum Beispiel, ja. Also Juristen zum Beispiel haben da einen wesentlich ja angemesseneren Ansatz, mit Hermaphroditen umzugehen. Sie sagen, es gibt einfach den Begriff Geschlecht, und das muss nicht Mann oder Frau sein, das kann genauso gut noch andere Komponenten beinhalten. Ja, also da sehe ich etwas mehr Hoffnung bei den Juristen. Aber bei den Medizinern, nein, die mit ihrem Gerede von Störungen.

Hettinger: Und dieser Wille nach Eindeutigkeit, wo einfach auch keine Eindeutigkeit Ihrerseits verlangt wird.

Müller: Ja, also was nicht ist, ist nicht. Ganz einfach.
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