Ein "winziger Zeh" im Eimer für Küchenabfälle

Nicht immer in guten Händen: Neugeborene Mädchen in China.
Nicht immer in guten Händen: Neugeborene Mädchen in China. © Jan-Martin Altgeld
Xinran im Gespräch mit Dieter Kassel · 22.11.2011
"Nutzlos, wertlos" - die Geburt eines Mädchens ist für viele Eltern auf dem Land in China ein Schicksalsschlag. Die Journalistin Xinran hat in ihrem Buch "Wolkentöchter" beschrieben, warum immer noch weibliche Säuglinge umgebracht werden.
Dieter Kassel: Gut zehn Jahre lang hat Xinran in China als Radiojournalistin gearbeitet und bei verschiedenen Stationen Sendungen moderiert, in denen es um die Probleme von Frauen ging. Am Anfang ging es dabei relativ harmlos zu. Dann aber, als sie bekannter wurde und immer mehr Frauen auch begannen, sich ihr gegenüber zu öffnen, musste sich Xinran ziemlich viele schreckliche Geschichten anhören: Geschichten zum Beispiel von Müttern, die ihre eigenen Töchter unmittelbar nach deren Geburt umgebracht hatten.

Umgebracht hatten sie ihre Töchter deshalb, weil man in China, gerade auch in ländlichen Gebieten, einfach Söhne haben möchte – Mädchen sind nichts wert. Geschichten von Müttern, die ihre Kinder umgebracht oder zumindest sehr früh weggegeben hatten, erzählt sie in ihrem Buch "Wolkentöchter". Dieses Buch ist jetzt im Herbst auch in Deutschland erschienen, und ich habe deshalb mit Xinran, die seit vielen Jahren in London lebt, über dieses Buch gesprochen und habe sie zuerst gefragt, wann sie denn das erste Mal überhaupt von solchen Geschichten gehört hat, dass Eltern ihre eigenen Kinder töten.

Xinran: Ich selbst wurde ja in der Stadt geboren und bin dort auch aufgewachsen, und hatte überhaupt keine Ahnung vom Landleben. Ich war zwischen 1988, 89 als Journalistin – da war ich schon über 30 – auf dem Land unterwegs und merkte zum ersten Mal, wie arm das Land wirklich war, wie arm das Leben dort war. Ich machte eine Reise in ein Dorf und wurde dort von einem Polizisten begleitet, dem gegenüber ich dann sagte, wie seltsam es doch sei, dass die Kinder alle barfuß herumlaufen und nackt waren. Da sagte er: Ach, das ist doch der Sommer, und es ist halt warm.

Ich erinnere mich noch, dass wir dort zu Abend gegessen hatten bei einer Familie in einem sehr armen Dorf, und dort wurde ich dann zum ersten Mal Zeugin, wie ein kleines Mädchen umgebracht wurde. Nach dem Abendessen oder während des Essens hörte ich plötzlich von nebenan Schreie, laute Schreie. Ich war damals schon selbst Mutter und wusste, dass dort eine Geburt stattfand, und später hörte man dann ein lautes Weinen und heftige Schreie, die dann aber plötzlich aufhörten, und dann hörte man eine Männerstimme, die sehr wütend und ärgerlich nur "nutzlos, wertlos" rief. Und ich wusste bis dahin nicht, was passierte, bis ich plötzlich hinter mir etwas bemerkte. Das ist immer noch sehr emotional für mich, darüber zu sprechen, es bewegt mich immer noch sehr.

Denn hinter mir bemerkte ich plötzlich einen winzigen Zeh, der aus einem Eimer für Küchenabfälle hervor sah. Und da merkte ich, dass das das Baby war. Und ich fragte, was das ist. Der Polizist sagte: Ach, das ist nichts, sag jetzt nichts. Du kommst aus der Stadt. Das hier ist das Land. Misch dich nicht in ihre Bräuche ein. Ich habe doch was gesehen, sagte ich, haben Sie das nicht gesehen? Und da sagte die Frau, die Hausfrau: Ach, das ist das Mädchen aus der Stadt. Das ist doch nichts, das ist kein Kind. Das, was da ist, das brauchen wir nicht. Da habe ich dann wirklich erst realisiert, dass das das neugeborene Mädchen war. Und das war für mich das erste Mal.

Kassel: Wie haben Sie damals über die Mütter gedacht? Man muss ja sagen, dass es meistens die Mütter sind, nicht die Väter oder andere Familienmitglieder, die in solchen Fällen die Mädchen wirklich umbringen. Was haben Sie damals, ganz am Anfang, über diese Mütter gedacht?

Xinran: Also die Tatsache ist, dass in den meisten Fällen nicht die Mütter alleine die Kinder töten, sondern dass sie von den Familien dazu gezwungen werden, vor allem von den Familien des Mannes. Das ist die Regel eigentlich. Ich habe danach viel Recherche zu diesem Thema betrieben, und ich habe bemerkt, dass diese Bräuche viel stärker sind als alles, dieser kulturelle Glaube, diese Traditionen sind stärker als jede politische Bewegung oder die sogenannte Chinesische Revolution. Das ist viel mächtiger.

Man fragt sich natürlich: Wie konnten die Familien das zulassen, dass so etwas passiert? Aber heute glaube ich, dass die Leute auf dem Land immer noch so fest verwurzelt sind in diesen Bräuchen und immer noch daran glauben, dass das ganz normal ist. Und das liegt daran, dass wir immer noch eine extrem männlich dominierte Kultur hier haben. Ich war natürlich schockiert darüber und ich bin mir sicher, dass es dieses erste Mal, wo ich Zeugin geworden bin, nicht die Mutter selbst war, die das getan hat. Und ich weiß, dass nach einer langen Schwangerschaft für die Frauen eine Bindung zu ihrem Kind entstanden ist und das keine so etwas gerne tut.

Das passiert deshalb, weil für die Familie das ein extremer Makel ist, wenn das erstgeborene Kind kein Junge wird. Die Frauen werden dann wie Kriminelle betrachtet, Kriminelle gegenüber ihrer Familie und gegenüber ihrem Dorf. Und ich habe die Frauen gefragt, wie sie das tun, wie sie das schaffen, wie sie das machen können. Und manche haben reagiert: Hm, das ist normal, das ist doch wie ein Teil der Hausarbeit, so ein Kind zu töten. Andere wiederum, die etwas mehr Bildung hatten, die scheinbar in Städten waren, die haben diesen Schmerz stärker gespürt. Das hängt halt wirklich davon ab, wie entfernt die Region ist, wie tief in den Bergen, wie weit draußen auf dem Land.

Kassel: Sie beschreiben in Ihrem Buch und haben auch schon erzählt, dass sie sogar einmal in Begleitung eines Polizisten waren, als sie so etwas erlebt haben. Sicherlich ist aber das Ermorden kleiner Kinder auch in China nicht erlaubt. Warum tun die Behörden nichts, oder was versuchen die Behörden denn zu tun, um das zu verhindern?

Xinran: Als erstes müssen wir verstehen, dass es in China einen Riesenunterschied zwischen dem Leben in der Stadt und auf dem Land gibt. Der Lebensstil und die Bedingungen unterscheiden sich so dramatisch. Wenn man Menschen in Shanghai oder in Beijing ansieht, dann gibt es keinen größeren Unterschied zu anderen Ländern, in anderen Großstädten im Westen, wie London, Berlin oder New York im Lebensstil, aber einen riesengroßen Unterschied zum Leben auf dem Land in China. Man muss wissen, dass viele Chinesen – über 70 Prozent – ungebildete Bauern sind. Die folgen stattdessen ihren Bräuchen, ihren Traditionen.

Das ist aber in ganz Asien so oder ein in Asien sehr weit verbreiteter Zustand, zum Beispiel Indien war ja ewig lange von den Briten besetzt, und auch dort hat sich der Glaube gehalten, dass Jungen so viel mehr wert sind als Mädchen. Also das ist in Asien ein sehr verbreiteter Glaube. Die chinesische Regierung versucht meines Erachtens sehr viel zu tun, um an dieser Situation etwas zu ändern, aber es ist so, dass auf dem Land die zuständigen Personen, Behörden auch nicht besser gebildet sind als die Bauern, die dort leben, oder wenig besser. Sie sind ebenso Teil dieser Kultur. Und deswegen tut sich das Land sehr schwer, da etwas zu ändern. China hat sich zwar ökonomisch geöffnet, aber um das Brauchtum, die Tradition zu ändern, braucht es viel mehr Zeit. Ich denke, es wird noch mindestens zwei oder drei Generationen dauern, um die neuen Generationen dazu zu bringen, zu glauben, dass Männer und Frauen gleichwertig sind.

Jetzt gibt es im Zuge der Arbeitslosigkeit und der Armut viele Bauern, die in die Städte gehen, um dort arbeiten zu können, und die sehen, dass die Menschen dort ganz anders leben. Diese Bildung nehmen sie mit zurück. Sie sehen teilweise auch, dass Mädchen in den Städten sogar noch mehr wert sind. Aber zurück in ihrem Dorf sind immer noch die gleichen alten Leute, die das Gleiche glauben wie früher.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Xinran, der Autorin aus China, die inzwischen seit einer ganzen Weile in London lebt. Wenn Menschen im Westen davon hören, dass in China in ländlichen Gebieten Mädchen umgebracht werden kurz nach der Geburt, dann heißt es oft, schuld daran sei zumindest unter anderem die Ein-Kind-Politik in China. Diese Ein-Kind-Politik ist 1980 eingeführt worden, also dass eigentlich jede Familie nur noch ein Kind zur Welt bringen und großziehen darf, und ich habe nach dem Lesen Ihres Buches auch das Gefühl, sie war in diesem Zusammenhang gar nicht so wichtig. Welche Rolle spielte denn die Ein-Kind-Politik überhaupt, auch gerade bei den Familien auf dem Land?

Xinran: Wenn man die chinesische Geschichte 3.000 bis 5.000 Jahre zurückverfolgt oder auch in ganz Asien, sieht man, dass die Asiaten immer schon der Meinung waren, dass Jungen mehr wert waren als Mädchen. Das findet man so in Japan, Singapur, Korea, Indien, Malaysia, überall. Das ist eine Kultur, die wir gemeinsam haben. Und diese Kultur ist für mich der Hauptgrund. Die Ein-Kind-Politik ist nur ein Teil davon.

Kassel: Sie haben es in Ihrem Buch gesagt, und das hat mich fast am meisten schockiert: Diese Geschichten, die Sie beschreiben, sind keine Geschichten aus der Vergangenheit, dieses Kapitel ist nicht abgeschlossen. Was glauben Sie denn, wann wird es soweit sein, dass die Ermordung von Kindern, nur weil sie Mädchen sind, in China wirklich etwas ist, was vielleicht noch einmal im Jahr passiert in Einzelfällen, und was auch in den ländlichen Gegenden nicht mehr so normal ist?

Xinran: Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht. Je mehr ich lerne, je mehr ich recherchiere, umso verwirrter werde ich. Bisher glaubte ich immer, dass mit verbesserten Lebensbedingungen, einer höheren Bildung sich auch größere Chancen für die Gleichheit ergeben würden, mehr Gerechtigkeit und mehr Chancen sich eröffnen würden. Für die Chinesen ist es sehr schwer, in dieser Zeit zu leben. Und ich denke, dass es sich vielleicht auch nicht nur um zwei bis drei Generationen handelt, bis dieses System geändert wird. Wir sehen uns hier einem wirklichen Krieg gegenüber, einem Krieg der menschlichen Selektion.

Solange überall noch der Glaube besteht, dass Jungen gegenüber Mädchen zu bevorzugen sind, dass sich die Eltern einen Jungen wünschen, dass Jungen mehr wert sind als Mädchen, wenn Frauen weniger Rechte haben als Männer und wenn Jungen erbrechtlich immer noch mehr Land kriegen als Mädchen, wenn Jungen erbrechtlich so immens bevorzugt werden, wird dieses System zementiert. Es ist nicht nur wichtig, die Frage zu stellen: Wieso bringen die ihre kleinen Mädchen um? Warum machen die das? Sondern man muss fragen: Wie funktioniert das System dahinter? Warum bringt ein System Familien dazu, so zu handeln? Dabei ist es vor allem wichtig, die Männer zu überzeugen, damit auch das Erbrecht zu ändern und die gesamte Gesellschaft.

Kassel: Xinran, die Autorin des Buches "Wolkentöchter". Erschienen ist das Buch in Deutschland im Droemer Verlag.


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