Ein wilder Wurf

11.05.2010
Wer feuilletonistischen Krawall verabscheut, wird dieses Buch nach wenigen Seiten entsorgen. Tilman Jens, der im letzten Jahr in <papaya:addon addon="d53447f5fcd08d70e2f9158d31e5db71" article="137173" text="&quot;Demenz&quot;" alternative_text="&quot;Demenz&quot;" /> seinen Vater Walter nicht als humanistischen Heros, sondern als fehlbaren, komplizierten, schließlich schwer erkrankten Menschen porträtiert hat, geht mit "Vatermord" gegen die Phalanx seiner Kritiker vor. "Statt einer Unterlassungsklage" heißt das erste Kapitel, mit dem ein Zornausbruch von fast 200 Seiten anhebt.
Am Ende bekennt Jens, dass er immer noch "Mordphantasien entwickeln könnte" – und zwar gegen jene, "die alles und jedes, was der Sohn tut, in dumpfbackene Relation zum Vater setzen". Tatsächlich ist "Vatermord" ein Plädoyer für das Lebens- und Arbeitsrecht der Durchschnittlichen, die von Überdurchschnittlichen gezeugt wurden.

Indessen hat Tilman (auch) durch Walter Jens bildungsbürgerliche Erziehung genossen und ist der Hochkultur verbunden. Er weiß seinen Fall in einen ansprechenden Rahmen zu stellen. Indem er seine boshaftesten Verächter zitiert – der Theologe Friedrich Schorlemmer hatte gehöhnt, dass "ein so liebender Sohn im Hause den Scharfrichter erspart" –, identifiziert er den seit Sophokles' "König Ödipus" skandalisierten Vatermord als das anthropologische Erklärungsmodell für den Aufruhr im letzten Jahr.

Tilman Jens breitet die Geschichte des Österreichers Philipp Halsmann aus, der aufgrund fadenscheiniger Indizien wegen Vatermordes verurteilt, später jedoch begnadigt wurde. Literarische Bearbeitungen des Motivs wie in Walter Hasenclevers Drama "Der Sohn" kommen zur Sprache. Jens spiegelt sich im Schicksal von Florian Havemann, den Sohn des DDR-Regimekritikers Robert Havemann. Er beleuchtet das Leben von Niklas Frank, dem Sohn des Nazis Hans Frank. Und – man möchte sagen: natürlich – blickt Jens auf Goethes geniefreien Sohn August.

Stets flechtet er Persönliches über sich und seinen Vater ein; textet Hasstiraden auf "Zeit"-Kritikerin Iris Radisch, "SZ"-Autor Alex Rühle und andere; hält Medien und Öffentlichkeit einen Spiegel zwecks Erkenntnis der Spießer- und Scheinheiligen-Fratze vor; kann bis zum Schluss nicht fassen, wie ihm da mitgespielt wurde, nur weil er Walters Sohn ist.

Tilman Jens will die Sache nicht nüchtern sehen, er fühlt sich erniedrigt und beleidigt. Die Raserei dient ihm als Motor und als Narrativ, um gegen die seltsame "Vererbungslehre" im Literaturbetrieb zu agitieren, die aus Söhnen Berufssöhne macht. "Demenz" war, trotz größerer Subtilität, kein bedeutendes Buch im Walter Jensschen Sinne, "Vatermord" ist es noch weniger. Die Aufarbeitung von Literatur-, Mythen-, Kriminal- und Mediengeschichte bleibt unselbstständiges Vehikel des Zorns. Doch (fast) so gut wie viele Kritiker, die ihm im Feuilleton angekreidet haben, nicht schreiben zu können, schreibt Tilman Jens dann doch – und gibt sich als schwieriger Charakter zu erkennen.

Nicht weniger schwierig ist der Charakter einer Medienöffentlichkeit zu nennen, die den "Demenz"-Autor ehrpusselig verdammt hat. Mit "Vatermord" fliegt der Fehdehandschuh (zurück), und zwar in einem wahrhaft wilden Wurf. Man kann sich ein, zwei Stündchen daran delektieren – die Relevanz bleibt aber im feuilletonistischen Rahmen.


Über den Autor: Der Journalist und Buchautor Tilmann Jens, geboren 1954 in Tübingen, wurde 1984 mit einer Reportage über die Todesumstände Uwe Johnsons bekannt – und vom Stern wegen illegaler Recherchemethoden gefeuert. Jens' Arbeiten für das Fernsehen, vor allem Porträts, Reportagen und Dokumentationen, werden seit den 90er-Jahren in der ARD gezeigt. Mit dem Buch Demenz über seinen pflegebedürftigen Vater, den emeritierten Rhetorik-Professor und einflussreichen Intellektuellen Walter Jens, löste Tilman Jens 2009 erbitterte Debatten aus. In der Welt hieß es: "Tilman Jens begräbt seinen lebendigen Vater".


Besprochen von Arno Orzessek


Tilmann Jens, Vatermord. Wider einen Generalverdacht,
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, 192 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag; 17,95 Euro
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