"Ein Weg aus den Bedrohungen des Lebens"

Von Jürgen Liebing · 06.01.2013
Kultur sei für ihn stets eine Art Rückzugsmöglichkeit gewesen, sagt der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Darüber hinaus habe die Kultur eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt von Gesellschaften - und sei daher kein bloßer Luxus.
Kultur ist etwas, das unser Leben reicher macht, bereichert, aber nicht im Sinn der materiellen Werte, sondern im Sinn der Perspektiven, der Blickwinkel, die wir auf die Welt nehmen können. Kultur ist etwas, was mich in meinem eigenen Leben, oft auch in Krisensituationen, wenn man unglücklich verliebt war oder wenn man eine schwerere Krankheit absolviert musste, was hilfreich war zu lesen, wie es anderen in dieser Situation gegangen ist.

Lesen war für mich immer ein ganz wichtiger Weg aus den Bedrohungen des Lebens, man zieht sich irgendwo zurück, man liest und findet, erfindet eine eigene Welt, die auch ein Stück Schutz ist vor der anderen Welt und gleichzeitig so viel Neues erzählt über diese Erfahrung der Krankheit und des Liebeskummers beispielsweise, dass man dann ganz befreit oder ein Stück weit auch erleichtert, manchmal auch ernüchtert wieder zurückkehren kann aus dem Leseerlebnis.

Meine frühen Lektüreerlebnisse, das waren in der Regel Romane von Jugendbuchautoren, die mir heute noch in Erinnerung sind, die beispielsweise von Archäologie handelten, also die Geschichte vom Goldenen Pharao, die Karl Bruckner mal geschrieben hat, das werde ich nie vergessen, das war eines der ersten Bücher, die ich gelesen habe. Das würde ich heute, wenn ich es in die Hand bekäme, wieder lesen. Das war die Geschichte von Tutenchamun und der Entdeckung seiner Goldmaske, deshalb der goldene Pharao, und ich habe dann tatsächlich sehr viele Bücher gelesen, die irgendwie mit Archäologie zu tun hat, von Ausgrabungen und so.

Ich erinnere mich noch, wie ich mich mit neunzehn – das war einer der letzten Auftritte von Birgit Nilsson als Isolde – eine Nacht lang angestellt habe für Stehplatzkarten. Da bin ich mit Schlafsack und einer Teethermoskanne so um 19 Uhr vor die Opernkasse gegangen und fand da eine ganze Reihe von Gleichgesinnten vor, die ebenfalls die Nacht dort verbracht haben, um eine der wenigen Stehplatzkarten zu ergattern. Ich habe dann tatsächlich eine bekommen. Ich weiß noch, dass das Gefühl sich unter Eingeweihten zu befinden, die alle wissen, was das bedeutet, wenn Birgit Nilsson noch einmal die Isolde singt, dass das ein sehr erhebendes und glücklich machendes Gefühl war, und bis heute ist das so, dass ich den Tristan nicht ohne diese Erinnerung hören kann.

Ich glaube, wir müssen eingestehen, es muss so etwas wie einen Konsens innerhalb der Gesellschaft geben, dass Kultur nicht etwas ist, was als Luxus, als Ausnahme, als etwas, was wir uns gerade auch noch leisten, verstanden wird, sondern als etwas, was im Zentrum Gesellschaften überhaupt erst möglich macht und einen Zusammenhalt stiftet, der durch Geld oder Medien allein gar nicht gewährleistet werden kann. Das klingt abstrakt, ist aber ganz konkret gemeint. Ich glaube, dass die Erfahrung, die man macht, wenn man in Opern und Theateraufführungen, aber auch in Buchhandlungen geht, durch nichts so leicht ersetzt werden kann.

Die Serie im Überblick:

"Wozu brauchen Sie Kultur?" - Prominente sagen, was sie an der Kultur schätzen
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