Ein Veteran der Popkultur

Von Andreas Schäfer · 18.04.2012
In seinem Roman "Gutgeschriebene Verluste" setzt Bernd Cailloux dem Mythos West-Berlin und den 80er-Jahren in der geteilten Stadt ein Denkmal. Mit Ironie. Und mit Stolz, selbst Teil dieses Mythos gewesen zu sein.
"68 bestand ja aus Kreativität und Destruktion, das war ja das unangenehme Paar, das Paar, was soviel hervorgebracht hat."

"Ein schönes Beispiel ist also die sexuelle Befreiung, die brachte dann später die Pornokanäle und die Swingerklubs hervor. Das ist auch ein Verlust. So war das nicht gedacht."

"68 war ich unterwegs. Ich bin erst zehn Jahre später hierher gezogen. Da passierte eben ein zweites tolles Phänomen...hier in West-Berlin, nachdem der SDS-Druck etwas gewichen war gab's wiederum so eine Befreiungsbewegung, und das hat dazu geführt, dass dieser Kunstschub passiert ist, der plötzlich Phänomene hervorgebracht hat...die Neue Deutsche Welle in der Musik, mit Ideal und den Einstürzenden Neubauten...Die Malerei, die wilde Malerei...hier war es zu sehen wie in einem Brennglas, wie in einem Labor."

Und das Herz dieses subkulturellen Labors schlug damals in Schöneberg. Die Diskothek Dschungel. Das Café Mitropa. Das Musikstudio, in dem David Bowie seine Berlin-Trilogie aufgenommen hat. Schöneberg als Epizentrum eines rauschhaft avantgardistischen und zugleich melancholischen Lebensgefühls.

Hier wohnt auch der Schriftsteller Bernd Cailloux, inzwischen 66 Jahre alt, allein, wie der Erzähler in seinem neuen Roman "Gutgeschriebene Verluste". In einer Altbauwohnung, die noch immer den halbrebellischen Charme des ewig Vorläufigen verströmt - ein Regal aus Orangenkisten im Flur, im Arbeitszimmer ein altes Ledersofa. Niedrige Bücherregale ziehen sich die in Würde ergrauten Wände entlang.

"68 war auch nicht gerade familienfreundlich. Es gab mehr Sex und weniger Kinder, heute gibt es mehr Kinder und weniger Sex wahrscheinlich."

"Gutgeschriebene Verluste" - das heißt: ein Veteran der Popkultur, "kein Eigenheim, keine Familie, keine Rentenansprüche", lässt noch einmal die Helden von damals auftreten und versucht mit Ironie Abschied vom Selbstbild des eigenbrötlerischen Salonverweigerers zu nehmen. Gar nicht so einfach, wenn man von den anderen als skurriler Rest einer untergegangen Epoche gesehen wird, als "Übriggebliebener."

"Also, alle Reaktionen auf dieses Buch hängen sich an diesem Begriff auf, das muss offenbar Spaß machen....Das sagt die Freundin einer Figur...: Das sind die Übriggebliebenen, und das wird dann ein Teil von diesem 68er-Bashing. Das sind dann die Leute, die eigentlich nicht übrigbleiben durften."

Nur wenige Hundert Meter von Caillouxs Wohnung entfernt, liegt - eben in der legendären Goltzstraße - das Café Savo. Ein eher steril eingerichteter hallenartiger Raum mit kleinen Tischen, der sich seit zwanzig Jahren nicht verändert hat.

Im Buch heißt der Ort "Café Fler", das eigentliche Zuhause des Erzählers, von wo aus er seine Erinnerungsreisen in die 70er- und 80er-Jahre unternimmt. Wie die Hauptfigur im Buch hat sich auch Bernd Cailloux damals durch Drogenexperimente einen Hepatitis-Virus zugezogen.

"Für mich persönlich war es eine Phase von etwa drei, vier Jahren. Ich habe seit 1972 da nichts mehr berührt, obwohl ich auch später noch eine kleine Schwäche für Kokain hatte..."

Er bestellt noch einen Kaffee. Draußen läuft der Schriftsteller-Kollege Thomas Hettche vorbei und schaut interessiert durch die Panoramascheibe ins Innere.

"Bei den harten Drogen merkt man nach drei Monaten schon die Folgen. Das hat mich auch vollkommen davon abgebracht."

Auch 68 ist wie eine Droge. Im neuen Buch kommt das legendäre Jahr kaum vor, im Gespräch aber führen so gut wie alle Wege zu den 68ern.

"Die Neokons, die Neokonservativen, sagen natürlich über 68: Ein Straßenkämpfer wird Außenminister, sein Nachfolger heiratet einen Mann und Alice Schwarzer schreibt für die Bild-Zeitung. Das sind die Neokon-Haltungen. Für die ist natürlich ein guter 68er ein toter 68er...Da könnte die Gesellschaft auch ein bisschen dankbarer sein, den 68ern, weil sich dadurch eben neue Felder ergeben haben."

Mit dem Fall der Mauer verschwand die Nische West-Berlin, die Errungenschaften der Protestbewegung wurden längst von der Kulturindustrie kommerzialisiert. Immerhin würdigte der neue Bundespräsident gleich in seiner ersten Rede die Leistungen der 68er - eine späte Genugtuung nach Jahren der Häme. Was bleibt? Die Hoffnung auf die Jugend.

"Es sind ja nicht alle scharf darauf, bei der Bank zu arbeiten. Manche legen sich auch im Schlafsack vor die Bank..."

Und natürlich das Schreiben.

"...der Mythos ist ja auch nicht auserzählt, es passiert ja immer wieder was."

"Es gibt noch einen schönen Satz von Jules Renard. Die Ironie ist die Scham der Menschheit. Das ist Spitze...die Ironie....Für mich ist es eben die einzige Möglichkeit. Es ist die Versprachlichung der Welt in Form ihrer Gegenrede."
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