Ein Verteidiger der Kultur

Rezensiert von Reinhard Kreissl · 11.09.2005
Welche Bedeutung haben Literatur und Kunst für die Gesellschaft? Um diese und andere Fragen dreht sich das neue Buch "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit" von Jan Philipp Reemtsma. Er räsoniert über den möglichen Sinn der Beschäftigung mit Literatur. Alle bekommen dabei ihr Fett weg, auch Theater, Kulturpolitik und Literaturwissenschaft.
In Zeiten, in denen auch Literatur und Kunst in die Mühlen des Marktes geraten und nach Kosten und Nutzen befragt werden, wirkt ein Bändchen wie das hier zu besprechende auf wohltuende Art altmodisch. Reemtsma räsoniert über den möglichen Sinn der Beschäftigung mit Literatur und die angemessene Haltung, die man gegenüber den kulturellen Objektivationen der eigenen Gesellschaft einnehmen sollte.

Alle bekommen ihr Fett weg dabei: das moderne Theater, das sich nicht mehr am Text orientiert und die hermeneutisch zu erschließende Vielschichtigkeit des Werkes durch platten Realismus ersetzt. Die Kulturpolitik, die sich um die Frage der Beutekunst im eigenen Land erst kümmert, als sie sich anschickt, die von anderen requirierten Werke wieder zu beschaffen. Wer jüdische Kunstsammler enteignet, sollte nicht nur mit dem Finger auf jene zeigen, die nach 1945 Kunstschätze aus Deutschland ins Ausland gebracht haben. Die Literaturwissenschaft, die den falschen Anschein von Nützlichkeit mit sinkenden Standards kombiniert und sich nicht traut, selbstbewusst die praktische Nutzlosigkeit des eigenen Unterfangens zu propagieren. Und die modernen Sprachphilosophen, die zwar intellektuell befriedigende Deutungen produzieren, aber den kommunikativen Eros des Literarischen nicht erfassen können.

Die sechs verschiedenen Beiträge, in denen diese Themen behandelt werden, wurden zu verschiedenen Anlässen geschrieben und an anderen Orten bereits publiziert. Was sie zusammenhält, ist der von vielen Ausgangspunkten aus unternommene Versuch, einen Ort des Beobachters und eine Herangehensweise an Literatur und Kunst zu beschreiben.

Reemtsma durchmisst dabei die Geister- und Geisteswelt, immer begleitet von seinen zwei Säulenheiligen Arno Schmidt und Christoph Martin Wieland, mit dem Habitus eines Verfallstheoretikers, der die Fallhöhe des im guten Sinne bürgerlichen Kulturverständnisses zeigen will. Da bleibt der Ekel vor dem Pöbel natürlich nicht aus. Bei bestimmten inszenatorischen Praktiken des modernen Theaters wendet Reemtsma sich mit Grausen ab:

"Es geht darum, ein paar Orte zu haben, an denen Unmittelbarkeit und Spontaneität nicht ihre narzisstischen und masturbatorischen Selbstfeiern des totalen Indikativs abhalten. Und wenn dann die Theater leer bleiben? Dann bleiben sie eben leer. Und das Publikum sitzt vor den Fernsehschirmen und beobachtet, wie eine Gruppe von Leuten, die von morgens bis abends bei allem und jedem gefilmt werden, ihr trostloses Leben zunehmend (wie das Publikum hofft) zänkisch und obszön vor sich hin lebt."

Wer spricht hier? Reemtsma, der gebildet, mit polemischer Schärfe und sprachlicher Sorgfalt seine Positionen entfaltet, stimmt nicht in den neuerdings erhobenen scheinradikalen Ton der Kritik am so genannten White Trash ein, auch wenn solche Sätze knapp am Ressentiment vorbeischrammen.
Kultur ist etwas für Eliten und die sind dadurch definiert, dass sie kenntnisreich über Kultur reden und kollektiv kritisch den Kanon bewirtschaften. Es ist die selbst tragende Konstruktion eines Diskurses der Informierten, Gebildeten und im Prinzip Gleichgesinnten, der das verkörpert, was Reemtsma als Kultur bezeichnet. Kultur und der Diskurs über ihre Werke sind nicht zu trennen und nichts weist über diese Verbindung hinaus. Erfrischend klingen da die Absagen an jegliches Verwertungsinteresse.

"Frage also: Wozu braucht man Literaturwissenschaft? Antwort: um Literaturwissenschaft zu betreiben, um andere Literaturwissenschaftler auszubilden, und damit ein Teil von denen an den Schulen den Heranwachsenden ein wenig literarische Bildung beibringt – (....) Braucht man Literaturwissenschaft also für irgendetwas außerhalb ihrer selbst? Nein. Gibt es einen guten Grund, Literaturwissenschaftler für das, was sie tun, zu bezahlen, damit sie es von Berufs wegen tun können - außer man hat es gern, dass es sie gibt? Nein. Jede kulturpolitische Diskussion, die dies nicht ernst nimmt, ist nicht ernst zunehmen."

Wollte man es auf die schnöde Sprache der Soziologie bringen, könnte man sagen, an kulturellen Werken orientierte Diskurse erhöhen den Variety-Pool möglicher Selbstdeutungen, irritieren eingelebte Selbstverständnisse und sichern im Modus der wiederholten Deutung die Anschlussfähigkeit von Innovation an Tradition. Da ergibt sich dann auf lange Sicht wenigstens noch der Hauch eines Sinns jenseits der Binnengrenze.

Reemtsma sieht natürlich das Problem, das er sich mit seinen Überlegungen einhandelt: Wenn Kultur grob gesagt das ist, was eine Elite als solche hegt und pflegt, dann droht Beliebigkeit. Aus diesem Dilemma gibt es zwei Auswege, die Reemtsma auch nutzt. Variante eins verlagert das Problem in die Prozedur: Die kulturelle Elite ist selbst dafür verantwortlich, ihre Diskurse so zu gestalten, dass sie nicht in das Verwalten eines versteinerten Kanons abgleitet. Reemtsma baut diese Elite nach dem Modell der Habermas'schen Diskursgemeinschaft, womit er sich dann auch dessen Probleme einhandelt.

Der andere Ausweg führt über das Objekt: Was kann als Kunst gelten und was ist nur modernistisches Rauschen? Erwartbarerweise hagelt es hier Vorbehalte. Wo Kunst unmittelbar wird, so Reemtsma, "wird sie Teil der großen Dekoration, in der sich die Gesellschaft selbst begegnet". Beuys kommt mit einem abfälligen Nebensatz davon, andere werden erst gar nicht erwähnt oder summarisch mit dem Sammelbegriff "Installationen" abgehandelt. Der Versuch, Kunst als Kommunikationsmittel zu nutzen, ist für Reemtsma nicht statthaft. Man kann nicht mit ihr, sondern nur über sie kommunizieren. Leider findet sich keine Auseinandersetzung mit kunsttheoretisch immanent ansetzenden Versuchen, die eben diese Trennung aufheben wollen.
Aber das Aufheben von Differenzen ist Reemtsmas Sache bei der Beschäftigung mit Kultur ohnehin nicht. Er verteidigt den Eigensinn einer Sphäre des kulturellen Diskurses gegen Anwürfe und Angriffe von außen, wie die Gallier ihr Dorf gegen die römischen Truppen. Man mag seine Positionen in ihrer letzten Konsequenz nicht teilen - doch im Angesicht der herrschenden Verhältnisse im Imperium besitzt diese kulturtheoretische Minimalposition einer reflexiven Überwinterung im kleinen Kreis ihren eigenen Charme.


Jan Philipp Reemtsma:
Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit
Verlag C.H. Beck, München 2005.