Ein Vermächtnis aus Schweigen

14.05.2008
Die Eltern der namenlosen Ich-Erzählerin in Cécile Wajsbrots Roman "Aus der Nacht" waren vor dem Holocaust geflohen. In der Familie war diese Zeit von einem tiefen Schweigen überwölbt. Sie tritt deshalb eine Reise in das Land an, aus dem ihre Eltern als Kinder flohen. Stück um Stück dringt sie in die familiäre Vergangenheit vor.
Von der alten Heimat sind nur noch die Umrisse vorhanden: eine Kathedrale, ein Fluss, eine Straße. Was sonst dort geschah, die Flucht und die Vernichtung der zurückgebliebenen Verwandten in Auschwitz, ist in Dunkelheit versunken. Sogar die alte Sprache war dem Vergessen anheim gegeben worden. Lediglich der schwere Akzent, den die Eltern in der neuen Sprache besaßen, ließ erahnen, dass es überhaupt eine andere Vergangenheit gegeben hatte.

Inzwischen ist die Ich-Erzählerin schon lange eine erwachsene Frau und ihrerseits ins Ausland geflohen. Sie geht einem Beruf nach, der die innere Entwurzelung der Familie äußerlich fortsetzt und arbeitet als Auslandskorrespondentin einer Zeitung in exotischen Weltgegenden. Aber jetzt ist die Mutter seit vielen Jahren tot, und der Vater und dessen Schwester sind alt und in Demenz versunken - die militante Erinnerungslosigkeit hat sich zu einer Pathologie verfestigt. Höchste Zeit für eine Revision der Vergangenheit oder zumindest für einen Ortstermin in dem fremden Land.

In einer spröden, sparsamen Sprache entfaltet die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot das Innenleben ihrer Heldin und lässt zahlreiche autobiographische Erfahrungen einfließen. Genau wie die Erzählerin stammt auch Wajsbrot aus einer jüdischen Familie, die auf der Flucht vor dem Holocaust von Osteuropa nach Frankreich kam, und genau wie diese litt sie unter der Sprachlosigkeit und dem Schweigen über das erlittene Schicksal. Es sei die Voraussetzung für einen Neuanfang gewesen, lässt sie die Eltern ihrer Heldin sagen und zeigt zugleich, dass das untergründig stets gegenwärtige Leiden auf diese Weise noch größere Macht gewann.

"Ich konnte diesen Rückzug gut verstehen, ihre Angst angesichts der Gefahren, die ihnen gedroht und die sie überstanden hatten, den Wunsch, nichts möge sich mehr ändern, das Leben möge endlich stehen bleiben, diese Sehnsucht nach Ruhe, aber das alles hatte tatsächlich zum Stillstand geführt, sich in einen Morast verwandelt, durch den ich waten und dem ich entkommen musste, um meinerseits leben zu können."

Wenn Wajsbrots Erzählerin über ihren Vater und ihre Tante nachdenkt, spricht sie immer von "dem Bruder" und "der Schwester", so als handele es sich nicht um ihre Verwandten, sondern um Figuren einer fremden Geschichte. Es gab einen Mangel an elterlicher Fürsorge. Dieser Vorwurf wird offen ausgesprochen: das Überleben habe die Eltern sämtliche Kräfte gekostet, "sie ruhten sie sich anschließend aus, ruhten sich auf mir aus". Wajsbrot legt eine weitere Deutung nahe. Dass "der Bruder" und "die Schwester" ihr Leben lang gemeinsam arbeiteten - die Familie betrieb eine kleine Schneiderwerkstatt -, und sich auch als alte Menschen eine Wohnung teilen, zeigt, wie sehr sie in der Struktur ihrer Herkunftsfamilie verharren, sie nie durchbrechen, sondern so leben, als seien sie ewig Kinder.

Aber der Roman Aus der Nacht ist keine Abrechnung, sondern das literarisch verdichtete Protokoll eines Versuchs, den Schmerz nachzuvollziehen und zu einem Teil des eigenen Lebens werden zu lassen; den undeutlichen Umrissen - der Kathedrale, des Flusses, der Straße - eine Geschichte hinzuzufügen. Ein mühsamer Prozess, der auf behutsame Weise dargestellt wird.

In die Rahmenhandlung, die das Warten auf die Abfahrt des Zuges, die Reise und der Aufenthalt in dem Provinzstädtchen umfasst, sind Dialoge eingelassen, ein imaginiertes Zwiegespräch mit Vater und Tante. In der Sphäre der Phantasie liegt das Kraftzentrum der Erzählerin verborgen, hier lassen sich die ungestellten Fragen stellen. Kleine Erlebnisse skandieren den Rhythmus der Suche nach der Vergangenheit.

Noch im Zug findet eine Begegnung mit einer Frau aus Oswiecim, Auschwitz statt, einer Lehrerin, die von ihrer Erfahrung mit dem grausamen Erbe berichtet. In Kielce begibt sich die Erzählerin auf die Spur eines älteren Bruders ihres Vaters, der noch vor der Flucht der Familie im Fluss ertrunken war.

Und immer wieder tauchen in Kursivschrift gehaltene Abschnitte über die Lebensbedingungen und Eigenarten von Eulen auf. Wajsbrot parallelisiert die Vergangenheitsarbeit ihrer Heldin, die sich mit den im Dunkeln versunkenen Geschehnissen beschäftigt, mit den Fähigkeiten der Nachttiere. In welche Tiefen sie dafür hinab steigen muss, kündigt schon der Titel an: Aus der Nacht.

Cécile Wajsbrot, 1954 in Paris geboren und Verfasserin mehrerer Romane, zählt mit Patrick Modiano und Philippe Grimbert zu den Schriftstellern, die über jüdische Schicksale unter französischer Besatzung schreiben. Mit Aus der Nacht kehrt sie zum ersten Mal in die Landschaft zurück, die ihre Familie verlassen musste. Der Roman erzählt in bedrängender Dichte vom schweren Umgang mit dem Vermächtnis des Holocaust. Davon zu erzählen, ist der erste Schritt, um damit leben zu können.

Rezensiert von Maike Albath

Cécile Wajsbrot: Aus der Nacht
Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind Verlag München 2008
219 Seiten. 19, 95 Euro