Ein Tschechow unserer Zeit

20.03.2012
In Jehoschua Kenaz´ Erzählband gewinnt das Disparate menschlicher Existenz an Empathie und Form. Hysterie in einer WG und ein gescheiterter Porno-Abend - ein großes Mitgefühl gibt es gegenüber den Protagonisten dieser Erzählung.
Klara, ein gut aussehendes junges Mädchen im Israel der fünfziger Jahre, leidet unter der Zwangsvorstellung, dass man ihr im KZ "fremdes Fleisch" implantiert habe, das nun in ihrem Körper wuchere und die eigene Haut vernichte, Schicht um Schicht. Mit ruhiger Stimme erzählt sie allen davon – auch den Besuchern eines Wohnzimmer-Kulturabends, an welchem ihre in Israel geborene Verwandte eigentlich Robert Schumanns "Kinderszenen" auf dem Klavier hatte spielen wollen. Später wird sich Klara in einen etwas skurrilen ehemaligen Lehrer verlieben und ganz leise und wie nebenbei aus dieser Geschichte verschwinden, die den neuen Erzählband von Jehoschua Kenaz einleitet.

Trotz einiger bereits auf deutsch übersetzter Bücher ist der 1937 in Petach Tikwa bei Tel Aviv geborene Romancier und Erzähler hierzulande noch nicht so recht bekannt geworden. Obwohl er - ein stiller, dem politischen Petitions-Engagement eher ferner Zeitgenosse - in Israel als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren gilt, sollte man ihn vielleicht nicht unbedingt mit Amos Oz, David Grossman und Meir Shalev vergleichen.

Pastiche statt Panorama scheint nämlich Kenaz´ literarisches Programm zu lauten, Episode statt Epik. Denn auch wenn die Eingangsgeschichte in einem Moschav spielt - also in einem für das Land so typischen landwirtschaftlichen Genossenschaftsdorf - und in der Folgeerzählung aus Kinderperspektive die Mysterien des dortigen Orangenhains erkundet werden: Kenaz, ein ebenso eindringlicher wie dezenter Autor, pinselt nicht naturalistisch, sondern tupft an.

Ob ein bejahrter Vater von seinem Sohn ins Krankenhaus gebracht oder eine im Grunde genommen banale Armee-Begebenheit die Psyche aller Beteiligten für immer prägen wird, ob eine um einen Mitbewohner besorgte Tel Aviver Hausgemeinschaft bald in Hysterie abkippt oder ein Pornofilm-Abend am altertümlichen Projektor und anderen Widrigkeiten scheitert: Schon ab der ersten Zeile ist da diese Kenaz-Atmosphäre und ein unverwechselbarer Stil, ethisch fassungslos und doch - im wahrsten Wortsinn - ästhetisch gefasst angesichts all dieser menschlichen Absurditäten.

Wem - außer vielleicht Alice Munro und William Trevor - gelänge es heute noch, auf solche Weise das Disparate einzufangen und dennoch das Netz nicht mit auktorialer Selbstgefälligkeit zuzuschnüren? Denn ein großes Mitgefühl gibt es gegenüber den Protagonisten dieser Erzählungen, eine nie ins Weinerliche abkippende Aufmerksamkeit, die durchaus auch ironisch sein kann. Wer also - jenseits des medial dominierenden Palästinenserkonflikts - etwas über die einzige demokratische Zivilgesellschaft im Nahen Osten und ihr unglaublich ausdifferenziertes Innenleben erfahren möchte, wer neugierig ist auf das Universale der condition humaine in einer ganz bestimmten lokalen Ausprägung, der lese diesen Jehoschua Kenaz, einen Tschechow unserer Zeit.

Besprochen von Marko Martin

Jehoschua Kenaz: "Die Nachmittagsvorstellung"
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner
Luchterhand Verlag, München 2012
270 Seiten, 18,99 Euro
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