"Ein sehr schönes Fünf-Minuten-Erwachsenengefühl"

Vassilis Tsianos im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 21.02.2013
Als Kind half er seinen Eltern als Übersetzer in Ämtern und Kliniken, heute ist er Soziologe an der Universität Hamburg: Vassilis Tsianos hat erlebt, wie die Einsprachigkeit in Deutschland zu Stress und Schamgefühl führen kann. Er fordert, die Multilingualität von Kindern zu fördern.
Liane von Billerbeck: Was heißt eigentlich Einkommenssteuerbescheid auf Türkisch? Wie lässt sich der Unterschied zwischen Aufenthaltsgestattung und -duldung ins Arabische übersetzen, wie eine Krebsdiagnose überbringen? Für Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien, die oft schon sehr früh mit Erwachsenenthemen konfrontiert werden, weil sie ganz schlicht für ihre Verwandten übersetzen müssen? Diese mehrsprachige Kommunikation werde in hohem Maße von Kindern bestritten, schreibt die Sprachwissenschaftlerin Vera Ahamer in einer neuen Studie. Anlass für uns, am heutigen Tag der Muttersprache und Mehrsprachigkeit darüber zu reden, was das für ein Gefühl ist, seine Eltern hilflos zu erleben, wenn man als kindlicher Übersetzer bei Behördengängen in eine Erwachsenenwelt katapultiert wird.

Darüber will ich mit Vassilis Tsianos sprechen, einst Mitglied von kanak attak und heute Soziologe an der Uni Hamburg. Ich grüße Sie.

Vassilis Tsianos: Hallo.

von Billerbeck: Kinder lernen ja eine neue Sprache meist schneller als Erwachsene, sozusagen spielerisch. Wann und wie waren Sie denn das erste Mal Übersetzer für Ihre Eltern?

Tsianos: Ich glaube, ich war elf oder zwölf Jahre alt, im Hamburger UKE.

von Billerbeck: Im Krankenhaus also.

Tsianos: Ja, ja, im Krankenhaus. Ich kann mich sehr, sehr gut erinnern, es war das erste Mal, wo ich überhaupt von Harburg – ein kleines Gettolein in Südhamburg sozusagen – in die Stadt kam, ich war noch nie oder nicht richtig in Eppendorf, Eppendorfer Baum, und ich kannte diesen Stadtteil nicht, wo das Krankenhaus war. Also, selbst der geografische Ort war für mich extrem fremd und anders. Auf jeden Fall, ich habe mich dort verlaufen, im Krankenhaus, ich erinnere mich sehr genau, es war zu groß, es war alles überdimensional. Und ich erinnere mich auch ganz genau, meine Eltern plötzlich waren oder sind in meiner Erinnerung sehr klein. Das ist das erste Gefühl, was ich damit verbinde, diese Überdimensionalität des Raumes, das war gigantisch für mich, und gleichzeitig immer kleiner werdende Eltern.

von Billerbeck: Weil die sich nicht verständigen konnten?

Tsianos: Weil die Angst vor der Untersuchung hatten und weil die überfordert waren mit einer Situation, die, ja, mit Übersetzung zu tun hatte. Ja, klar.

von Billerbeck: Wie übersetzt man denn aber als Kind Dinge, die man ja möglicherweise inhaltlich noch gar nicht versteht?

Tsianos: Mein Gott, das ist eine gute Frage. Es ist per definitionem eigentlich nicht möglich, als Kind oder von der Rolle eines Kindes ausgehend für die Eltern zu übersetzen. Man infantilisiert die Eltern und man wird plötzlich zu einem inadäquaten Erwachsenen. Die Übersetzung selbst ist eine sehr, sehr, sehr starke, emotional schwere Angelegenheit, vor allem wenn es sich um schlechte Nachrichten handelt.

von Billerbeck: Bei Krankheiten oder so.

Tsianos: Ja, ja, ja.

von Billerbeck: Da lernen andere erwachsene Menschen, wie man solche Nachrichten überbringt, und man als Kind dieser Eltern, die da krank sind, soll dann diese Nachricht einfach so überbringen. Wie haben Sie das gemacht?

"Das hatte ein bisschen mit Rassismus zu tun"
Tsianos: Ach, das war … Es ist sehr schwierig, darüber zu reden eigentlich. Ich habe nicht in die Augen meiner Eltern geguckt und ich habe dem Arzt oder der Ärztin auch nicht in die Augen geguckt. Ich habe mich geschämt für die Situation und ich habe mein Bestes versucht. Ich habe selbstverständlich nicht alles verstanden. Es war 80er-Jahre, das heißt, zu der institutionellen Situation der Monolingualität sozusagen, der Einsprachigkeit kam noch dazu das Gefühl, das ich damals hatte, dass ein herabsetzender Ton und merkwürdiger Blick da war seitens der Ärzte.

von Billerbeck: Also, es war nicht normal, dass eine griechische Familie kam und die wurde ganz normal behandelt wie jeder andere Patient?

Tsianos: Ich glaube, es ist jetzt ein bisschen anders, ja. Damals war das, ich glaube, das hatte ein bisschen mit Rassismus zu tun, muss ich sagen.

von Billerbeck: Sind Sie als Kind eigentlich auch mitgenommen worden zu Behörden, wenn es also um komplizierte verfahrenstechnische Dinge geht?

Tsianos: Ja, selbstverständlich.

von Billerbeck: Da wird es ja dann noch schwieriger, was man im Deutschen nicht versteht, dann in die Muttersprache zu übersetzen und umgekehrt.

Tsianos: Ich habe zum Beispiel letztes Jahr beim Sprechen mit meiner Schwester darüber festgestellt, dass meine Schwester ein ganzes Jahr in ihrer Bildungsbiografie vermisst. Weil meine Eltern nicht rechtzeitig beziehungsweise überhaupt nicht registriert haben, dass sie sie rechtzeitig anmelden mussten. Weil die konnten damals das nicht lesen. Und wir haben angefangen erst mit sechs oder sieben, Deutsch lesen zu können, das heißt, die ersten behördlichen Briefe überhaupt zu entziffern. Und bei der Behörde, ja, das ist vor allem mit meinen Cousins und Cousinen, die ein bisschen älter waren, die zu dem damaligen Arbeitsamt zu begleiten, das war auch sehr, sehr anstrengend. Weil ich selbstverständlich die Begrifflichkeiten weder richtig im Deutschen noch überhaupt nicht im Griechischen verstehen konnte.

von Billerbeck: Ja, was ist dabei herausgekommen? Ich stelle mir vor, dass da ein ziemliches Kuddelmuddel dabei herauskommen kann?

Tsianos: Es war nicht immer katastrophal. Wenn man hört, gibt es auch sehr, sehr gute Leute, die helfen. Damals habe ich das nicht so empfunden, aber mit den Jahren ist das immer besser geworden. Und damals haben auch andere Leute geholfen, es gab sozusagen die ersten ausländischen Krankenschwestern, die dann näher waren und die versucht haben zu vermitteln, zum Beispiel im Krankenhaus oder bei der Hamburger Sparkasse, der erste griechischstämmige Angestellte, der imstande war, etwas zu vermitteln.

von Billerbeck: Gab es auch unfreiwillig komische Situationen durch die möglicherweise falschen Übersetzungen?

Tsianos: Mein Vater im Krankenhaus zum Beispiel hat plötzlich aufgehört, sowohl Deutsch als auch Griechisch zu reden.

von Billerbeck: Warum?

Tsianos: Weil er Angst hatte. Und ich musste sozusagen mit seiner Sprachlosigkeit umgehen. Und es war … Ich schäme mich echt, es zu sagen, aber es war sehr komisch. Der Arzt war auch Türke, das war total interessant, mein Vater wollte nicht richtig beziehungsweise hatte ein bisschen Angst gehabt, es war alles zusammen. Es war eine sehr, sehr paradoxe Situation.

von Billerbeck: Andererseits wächst auch das Selbstbewusstsein, wenn man als Kind für die eigenen Eltern quasi so eine Obhutspflicht übernimmt?

Tsianos: Ja, auf jeden Fall, auf jeden Fall. Ich glaube, als Kind, im Verhältnis zu den anderen Kindern hast du ein anderes Gefühl, ein anderes Selbstwertgefühl. Aber du bist sehr, sehr stark belastet, du hast immer ein schlechtes Gewissen für den Fall, dass du was Falsches gemacht hast. Und manchmal haben wir auch was Falsches gemacht. Und dann haben wir die Konsequenzen selbstverständlich, den Stress von und durch die Eltern gekriegt.

von Billerbeck: Vassilis Tsianos ist mein Gesprächspartner. Der Hamburger Soziologe hat als Kind selbst erlebt, wie es ist, wenn man für die eigenen Eltern zum Übersetzer und Vermittler in eine neue Sprachwelt wird. Wie hat sich denn Ihr Verhältnis zu den Eltern verändert und auch das Verhältnis der Eltern zu Ihnen durch diese Rolle, die Sie da eingenommen haben?

Tsianos: Es ist ein sehr schönes Fünf-Minuten-Erwachsenengefühl. Das ist alles. Es verändert sich nicht sehr viel. Also, ich habe sie sehr geliebt, davor, danach. Ich glaube, das Verhältnis an sich hat sich nicht so sehr verändert, aber es war eine Situation, die ausgehandelt werden musste, und meine Eltern waren nicht imstande, damit umzugehen, und ich kannte und ich verspürte auch die Scham, das Schamgefühl, was sie hatten für die Situation, und das Unvermögen seitens der, sozusagen der Mehrheitsbevölkerung.

von Billerbeck: Hat sich eigentlich Ihr Verhältnis zur eigenen Muttersprache verändert? Also dadurch, dass Griechisch plötzlich – in Anführungsstrichen – weniger wert war, weil es in der neuen, in der deutschsprachigen Gesellschaft so wenig hilfreich war?

Tsianos: Interessanterweise genau das Gegenteil.

von Billerbeck: Aha, warum?

"Motiviert, extra besser Griechisch zu lernen"
Tsianos: Selbstverständlich. Erstens, meine persönliche Sprachsozialisation ist permanent unterbrochen, ich musste hin und her. Ich war zwei Jahre hier, danach drei Jahre in Griechenland, es gab so eine permanente Unterbrechung. Aber auf jeden Fall, die Tatsache, dass ich nicht imstande war, etwas auszusprechen, und das heißt auch, zu denken, hat mich dazu motiviert, extra besser Griechisch zu lernen, für mich persönlich. Weil, ich hatte festgestellt plötzlich, nicht nur, dass ich nicht sprechen kann, sondern dass ich einen Sachverhalt nicht beschreiben, das heißt denken kann. Das hat mich sehr, sehr herausgefordert und genervt.

von Billerbeck: Es gibt ja auch Untersuchungen, dass besonders die Kinder in einer neuen Sprache gut sind, die auch in der eigenen, in der Muttersprache gut sind. Also, das ist irgendwie immer die Voraussetzung für das Erlernen einer weiteren Sprache.

Tsianos: Selbstverständlich. Und das ist der krasse Fall, den wir gerade letztens hier in der Bildungsdiskussion haben. Seit Jahrzehnten gilt als absolut nachgewiesen – und in unterschiedlichen Kontexten, nicht nur in Deutschland –, dass sprachliche Souveränität in irgendeiner Sprache sozusagen auf jeden Fall das Erlernen der zweiten und der dritten Sprache befördert und beschleunigt. Interessanterweise wird das nicht anerkannt. Wichtig ist, dass die Kinder eine Möglichkeit haben, in der Sprache zu denken.

von Billerbeck: Wo liegt denn nun die Schuldfrage? Ist die Schuld eher bei den Eltern, die selber kein Deutsch lernen, oder muss das die Gesellschaft ganz anders angehen und sage: Eltern, bringt euren Kindern eine Sprache bei, damit sie dann auch in anderen fähig sind zu kommunizieren? Oder ist das also ein gesamtgesellschaftliches Problem?

Tsianos: Die Frage, wie wir mit Sprache, mit Einsprachigkeit oder mit Mehrsprachigkeit umgehen, ist an sich ein gesellschaftliches Problem. Ich finde, es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir unbedingt nur eine Sprache in Deutschland in den Regeleinrichtungen reden. In Luxemburg zum Beispiel muss man gleichzeitig – oder in der Schweiz – mindestens dreisprachig gleichzeitig im Begriff sein sozusagen, in der jeweiligen Situation sich für eine der Sprachen zu entscheiden. Das ist nicht unbedingt das beste Modell, aber das Gegenmodell sozusagen, der Zwang zur Monolingualität führt zur Gettoisierung derjenigen, die sowieso gettoisiert sind. Unter Stresssituationen, wenn du nicht Muttersprachler bist – das merke ich auch bei mir, ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist –, dein kognitives und kommunikatives Sprachvermögen ist sehr, sehr, sehr stark eingeschränkt letztendlich.

von Billerbeck: Wo sehen Sie die Lösung für das Problem?

Tsianos: In fast allen Regeleinrichtungen, Schulen, Krankenhäusern, ist eine zweite oder dritte Sprache, die auch in Verbindung mit Migrationshintergrund zu tun hat, schon da. Sie ist vorhanden. In der Schulpolitik müssen wir sozusagen auf jeden Fall die Multilingualität der Kinder fördern, und das nicht nur für die Kinder mit Migrationshintergrund, für alle Kinder.

von Billerbeck: Das sagt der Soziologe Vassilis Tsianos am heutigen Tag der Muttersprache und Mehrsprachigkeit. Ich danke Ihnen.

Tsianos: Ich habe Ihnen zu danken.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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