"Ein positives Signal"

Frank Bsirske im Gespräch mit Michaal Groth und Ulrich Ziegler · 03.07.2010
Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, hat Äußerungen des neuen Bundespräsidenten Christian Wulff begrüßt. Er habe sich als jemand vorgestellt, der die Integration der Gesellschaft "als notwendig, sinnvoll und erstrebenswert" ansieht.
Deutschlandradio Kultur: Die Linke ist für viele Gewerkschafter Partner, zum Beispiel im Kampf gegen den Sozialabbau. Innerhalb der Gewerkschaften haben etliche Mitglieder gewechselt, zum Beispiel von der SPD zur Linkspartei. Ist die Weigerung der Linken, Joachim Gauck am Mittwoch im dritten Wahlgang zu unterstützen, der letzte Beweis der Politikunfähigkeit?

Frank Bsirske: Die Linke hat argumentiert, dass die Positionen von Gauck mit ihren eigenen nicht übereinstimmen, was die Sozialpolitik, was die Friedenspolitik angeht, und dass der Kandidat für sie vor diesem Hintergrund nicht wählbar war. Er war ja auch kein Kandidat, der sozusagen auf die Linken zugeschnitten war, sondern ein Kandidat, der auf die schwarz-gelbe Mehrheit, die ja sehr, sehr komfortabel gewesen ist, in der Bundesversammlung zugeschnitten war.

Und insofern, glaube ich, geht es hier nicht um Politikfähigkeit, sondern das eigentliche Problem vom Mittwoch liegt in der schwarz-gelben Koalition, wo Frau Merkel offenbar das Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung verloren hat und dafür eigentlich eine ziemliche Klatsche eingefangen hat.

Deutschlandradio Kultur: Also keine schlechten Chancen für zukünftige rot-rot-grüne Bündnisse?

Frank Bsirske: Ich denke, dass sich künftige rot-rot-grüne Bündnisse an den sozialen Auseinandersetzungen und an den Notwendigkeiten, unser Land auch zukunftsfähig zu gestalten, festmachen muss. Dafür sind die Würfel ganz sicherlich nicht mit der Bundesversammlung vom Mittwoch gefallen.

Deutschlandradio Kultur: Aber dann schauen wir mal, was die Wahl des Bundespräsidenten betrifft, auf Christian Wulff. Welche Erwartungen haben Sie denn als Gewerkschaft an dieses neue Staatsoberhaupt?

Frank Bsirske: Er hat sich ja zunächst als jemand vorgestellt, der die Integration der Gesellschaft und die Integration der verschiedenen politischen Strömungen als notwendig, sinnvoll und erstrebenswert ansieht und der versuchen will zusammenzuführen statt zu spalten.

Deutschlandradio Kultur: Wie Johannes Rau?

Frank Bsirske: Das ist, denke ich, zunächst mal ein positives Signal. Umso notwendiger ein Signal in einer Situation, wo wir ja erleben, dass die Bundesregierung, dass Frau Merkel mit zum Beispiel diesem sogenannten Sparpaket, das an Einseitigkeit kaum zu überbieten ist, den Zusammenhalt der Koalition über den Zusammenhalt der Gesellschaft stellt - aus Rücksichtnahme auf die Klientelpolitik ihres Koalitionspartners.

Deutschlandradio Kultur: Jetzt gibt’s ja, was das Sparpaket betrifft, deutlichen Korrekturbedarf, nicht nur von Seiten der Gewerkschaften, auch beispielsweise die FDP sagt, ja, wir müssen da im sozialen Bereich nacharbeiten. Auch in den Reihen der CDU ist das eindeutig. Gibt es eine Schnittmenge, wo Sie sagen, ja, das wäre das Mindeste, wo wir zufrieden wären, und dafür wollen wir kämpfen?

Frank Bsirske: Die Koalition hat aus meiner Sicht, was das sogenannte Sparpaket angeht, eine völlig falsche Ausgangsdiagnose. Wenn wir von der Bundesbank erfahren, dass die Verschuldung in den letzten zweieinhalb Jahren um 180 Milliarden Euro nach oben geschossen ist, davon alleine 98 Milliarden aufgewandt wurden, um die Banken vorm Zusammenbruch zu bewahren, und Frau Merkel anschließend erzählt, wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, dann stimmt da was nicht. Wer ist eigentlich "wir"?
Und wenn man dann anguckt, was in diesem sogenannten Sparpaket präsentiert wird, dann wird nichts daran geändert, dass man Hotelketten-Besitzern, reichen Erben und großen Unternehmen Milliardengeschenke noch vor wenigen Monaten gemacht hat und jetzt dafür die Arbeitslosen zur Kasse gebeten hat.

Deutschlandradio Kultur: Nun ist es ja eine Tatsache, dass die öffentlichen Haushalte 57 Prozent ihrer Mittel für Sozialausgaben ausgeben. Soll da jeder Einschnitt außen vor bleiben?

Frank Bsirske: Interessanter als die Frage, wo denn im sozialen Bereich eingeschnitten werden kann und sollte, ist die Frage, wie die starken Schultern stärker zur Finanzierung der gesellschaftlichen Aufgaben herangezogen werden können. Wir haben doch eine Ausgangslage, wo wir es mit einer strukturellen Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte zu tun haben. Da muss was geändert werden.
Es ist doch nicht gottgegeben, dass wir bei der Besteuerung großer Erbschaften und Vermögen eine Steueroase sind. Und es ist nicht gottgegeben, dass wir bei der Versteuerung von Unternehmensgewinnen und Kapitaleinkünften ein Niedrigsteuerland sind. Es ist nicht gottgegeben, dass der einzige Bereich, der in unserer Gesellschaft von der Umsatzsteuer komplett ausgenommen ist, der Börsenumsatz ist, während in Großbritannien jedes Jahr sieben bis acht Milliarden Pfund eingenommen werden aus einer Börsenumsatzsteuer. Ich könnte diese Liste verlängern. Da muss man hingucken, umso mehr wir Handlungsbedarf haben im Bildungsbereich noch und noch. Das stimmt hinten und vorne nicht und das ist auch so nicht akzeptabel.

Deutschlandradio Kultur: Aber vielleicht an einer Stelle muss man Sie korrigieren. Im Bereich Bildung will die Bundesregierung – soweit das im Moment bekannt ist – nicht sparen. Und wenn sie das gemacht hätte, was Sie jetzt fordern, dass man verstärkt Konjunkturprogramme, Gelder in die öffentlichen Haushalte rein pumpt, damit mehr Beschäftigung beispielsweise stattfindet, dann wäre die Sache mit der Verschuldung noch schwieriger und wir kämen möglicherweise schlechter aus der Krise raus als wir das im Moment tun.

Frank Bsirske: Erst mal werden wir schlecht aus der Krise rauskommen können, wenn wir über die staatliche Ausgabenpolitik und Haushaltspolitik zu einer Kontraktion der Wirtschaft und der Konjunktur beitragen. Da darf man ja nicht nur das sehen, was auf der Bundesebene passiert. Die Länder steigen ihrerseits in die Schuldenbremse ein. So ein Land wie Sachsen will im nächsten Jahr zehn Prozent des Landeshaushaltes streichen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Schuldenabbau ist doch nicht schlecht.

Frank Bsirske: Bei den kommunalen Haushalten haben wir eine Finanzsituation, die man nur als katastrophal bezeichnen kann, wo viele Gemeinden am Rande des Kollapses stehen und die eigentliche Zuspitzung der kommunalen Finanzkrise uns erst noch bevorsteht.

Nun ist die Haushaltskonsolidierung ganz sicher für sich genommen nicht schlecht. Die Frage ist ja nur, wie packt man dieses Thema am wirkungsvollsten an und auf eine Art und Weise, die die Daseinsvorsorge in der Gesellschaft stärkt, statt zu schwächen, und die dem Grundsatz und dem Wert der sozialen Gerechtigkeit auch Rechnung trägt. Ich plädiere dafür, dass diese Haushaltskonsolidierung unter Bedingungen erfolgt, wo die starken Schultern in der Gesellschaft stärker herangezogen werden zur Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben und damit auch zur Konsolidierung der Haushalte und wir durch Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau die Konjunktur stärken.

Deutschlandradio Kultur: Also ist die Schuldenbremse so, wie sie jetzt vorgesehen ist und im Grundgesetz dann verankert, nicht der richtige Weg?

Frank Bsirske: Ganz sicher nicht. Denn sie wirkt als Investitions- und Wachstumsbremse. Sie wirkt prozyklisch. Und sie stellt die Politik oder schnürt sie in einer Art und Weise ein, die nicht zielführend ist. Das ist ja nicht nur der Blick aus der gewerkschaftlichen Perspektive, sondern eine Position, die von vielen Ökonomen auch eingenommen wird – aus meiner Sicht zu Recht.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt aber, wie beispielsweise in der vergangenen Woche, den G-20-Gipfel. Nach langem Ringen sagen die europäischen Länder, ja, wir wollen perspektivisch tatsächlich die Haushalte konsolidieren. Man einigt sich darauf. Und dann kommt der Europäische Gewerkschaftsbund und sagt: Wenn ihr das macht, dann werden wir spätestens im September zu militanten Streiks in Brüssel aufrufen. – Ist das zielführend?

Frank Bsirske: Wenn wir nach Spanien gucken, dann verlangen diese sogenannten Finanzmärkte eine Konsolidierung und drohen mit einer Herabsetzung des Ratings.

Deutschlandradio Kultur: Es waren die Staats- und Regierungschefs, die es beschlossen haben.

Frank Bsirske: Und wenn das gemacht wird, wird das Rating herabgesetzt, weil diese Politik dazu beiträgt, die Konjunktur zu erdrosseln und das Land in die Rezession hineinzusparen. Das sind doch offenkundige Widersprüche.

Ich plädiere nicht gegen Konsolidierung der Haushalte, sondern plädiere dafür, dass wir die Finanzausstattung der öffentlichen Haushalte sichern und stärken, indem wir aufhören, bei der Besteuerung großer Erbschaften eine Steueroase zu sein. Wenn wir nur auf das Durchschnittsniveau der Besteuerung großer Erbschaften in der Eurozone aufschließen würden in der Bundesrepublik, hätten wir jährliche Mehreinnahmen von 33 Milliarden Euro, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. – Haben oder Nichthaben.

Das ist in einer Situation, wo die Konsolidierung der Haushalte als Ziel angestrebt wird, wo wir uns nicht leisten können, auf Milliarden von Einnahmen zu verzichten zugunsten von Reichen, Vermögenden und Kapitalbesitzern, das ist ja gerade das Gegenteil von dem, was eigentlich in der Konsequenz der Krise notwendig wäre in unserer Situation. Hier muss ein anderer Kurs eingeschlagen werden als der, den die Bundesregierung jetzt geht und dem viele andere auch folgen.

Ich will dran erinnern, dass die USA aus meiner Sicht richtige Kritik an einer Politik der kontraproduktiven Haushaltspolitik geäußert haben und bewusst darauf gedrungen haben, dass der Binnenmarkt und die Binnennachfrage, insbesondere in einem Land wie der Bundesrepublik, gestärkt wird, statt sie in Gefahr zu bringen durch eine Politik der Kürzung der öffentlichen Haushalte, der Schwächung der Daseinsvorsorge und perspektivisch des Personalabbaus und der Fortsetzung einer Lohnpolitik, die weit, weit unter dem bleibt, was an sich notwendig wäre.

Deutschlandradio Kultur: Stichwort Lohnpolitik: Die Forderung nach Mindestlöhnen bleibt ja ein Lieblingsthema der Gewerkschaften. Nun will ja sogar die Bundesarbeitsministerin beim Thema Leiharbeit aktiv werden. Fühlen Sie sich da in Ihrer Linie bestätigt oder halten Sie das eher für eine Maßnahme, die wahre Problematik zu verdecken?

Frank Bsirske: Nein, ein Teil der Problematik scheint ja im Arbeitsministerium angekommen zu sein. Wenn wir erleben, dass die Lohndifferenz zwischen Leiharbeitskräften und Stammarbeitskräften im Schnitt bei 25, 30 Prozent liegt, in bestimmten Bereichen noch sehr viel höher, wenn wir also sehen, wie Leiharbeit eingesetzt wird als ein Instrument systematischer Lohndrückerei, dann fordert das im Grunde zu einer anderen Regelung von Leiharbeit, zu einer anderen Regulierung dieser Arbeitsform heraus als wir das bisher in der Bundesrepublik getan haben.
Die Gesellschaft muss sich entscheiden, welche Funktion eigentlich Leiharbeit haben soll. Soll sie ein Instrument sein, um vorübergehende Arbeitsspitzen abzufedern? Da würde ich sagen, das ist okay, wenn die Bedingungen stimmen. Oder soll sie ein Instrument systematischer Lohndrückerei sein und ein Mittel, um systematisch auch Streikbruch betreiben zu können, was bisher der Fall ist? Und wenn Frau von der Leyen jetzt das Thema der Bezahlungsbedingungen in der Leiharbeit tatsächlich aufnehmen würde, dann kann man das nur begrüßen.

Denn in der Tat ist es unbedingt notwendig, mindestens zu einer gleichen Bezahlung gleicher Arbeit am gleichen Ort zu kommen, also zu einer mindestens gleichen Bezahlung von Leiharbeit und Stammarbeit, besser vielleicht noch, um dem französischen Beispiel zu folgen, wo es eine gesetzliche Vorgabe gibt, dass bei Leiharbeitskräften auf den Lohn der Stammarbeit noch ein Aufschlag von zehn Prozent zu zahlen ist, weil der Gesetzgeber in Frankreich gesagt hat, dass Leiharbeiter unter unsichereren Bedingungen arbeiten als das bei Stammarbeitern der Fall ist.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie Leiharbeiter in Betrieben sehen und die unterstützen wollen, wie können Sie denn da selbst Druck ausüben?

Frank Bsirske: Wir sind, wie die IG Metall auch, dabei, das Thema gleicher Bezahlung von Leiharbeit und Stammarbeit auch über betriebliche Regelungen und über Anforderungen an die Arbeitgeberseite voranzutreiben. Das ist in bestimmten Bereichen, denke ich, auch durchsetzbar, wenn man etwa an große Energieversorgungsunternehmen denkt oder auch an Kommunalverwaltungen. Das wird aber ganz schwierig in anderen Bereichen, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad schwächer ist und wo die Voraussetzungen, um den ausreichenden notwendigen Druck auf die Arbeitgeberseite zu solchen Regelungen zu entwickeln, nicht so günstig steht, wie das in Großbetrieben der Fall ist.

Deutschlandradio Kultur: Dann müssen Sie genau da besser werden, Sie als Gewerkschaft.

Frank Bsirske: Ja, da bin ich ganz bei Ihnen, weil das ja auch Aufgabe der Gewerkschaft ist. Auf der anderen Seite ist in vielen Bereichen der Weg da hin allerdings noch lang und gibt es gleichzeitig unabweisbaren Handlungsbedarf in der Gesellschaft. Deswegen ist zweigleisig vorzugehen. Wir müssen da, wo wir den Druck entwickeln können in Betrieben, das tun und gleichzeitig an den Gesetzgeber herantreten, die Rahmenbedingungen rechtlich für die Leiharbeit zu verändern, damit Schluss damit ist.

Deutschlandradio Kultur: Spätestens, Herr Bsirske, nach dem Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts haben Sie ja ein Problem. Der Grundsatz "ein Betrieb, ein Tarifvertrag" hat keine Gültigkeit mehr. Sind die Zeiten, in denen die DGB-Gewerkschaften den Alleinvertretungsanspruch für alle Arbeitnehmer in der Tarifpolitik beanspruchen konnten, jetzt endgültig vorbei?

Frank Bsirske: Die sind in einigen Bereichen seit einiger Zeit vorbei. Daran wird sich so ohne Weiteres auch erstmal nichts ändern. Das ist aber auch gar nicht der Punkt, um den es geht. Das Bundesarbeitsgericht hat ja hier vor dem Problem gestanden, welcher Tarifvertrag eigentlich gelten soll, wenn zwei oder mehrere konkurrierende Tarifverträge von mehreren Gewerkschaften für dieselbe Arbeitnehmergruppe aufeinander treffen. Da war bisher die Vorgehensweise die, dass der speziellere galt. Was aber passiert, und das war die Fragestellung, wenn mehrere Tarifverträge gleich speziell sind?

Da sagt das Bundesarbeitsgericht jetzt: Dann gelten alle. Und wir sagen: Dann sollte der gelten, der die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder repräsentiert. Für dessen Geltungsbereich soll dann Friedenspflicht für die Dauer der Laufzeit gelten, es sei denn, die Mehrheit der Mitglieder wechselt im Verlauf der Laufzeit. Oder es geht darum, andere Themen zu tarifieren als sie in den aufeinandertreffenden Tarifverträgen geregelt sind. Oder die Laufzeit endet. Da wird ja zunächst mal nichts anderes passieren, als dass die Tarifeinheit, die bisher Richterrecht war, nun Gesetzeslage werden wird.

Deutschlandradio Kultur: Das muss aber erst noch in trockene Tücher kommen?

Frank Bsirske: Ja, das stimmt, wobei ja offenkundig eine große Koalition – von Linkspartei über die Grünen, über die SPD bis hin zu Union und FDP – sich aufgeschlossen gezeigt hat, diese gesetzliche Regelung auch zu schaffen, um im Grunde zu einer klaren gesetzlichen Regelung zu kommen, die darauf hinausläuft zu sagen, "die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb repräsentieren den Tarifvertrag", soll für seine Laufzeit gelten.

Deutschlandradio Kultur: Zu dieser Koalition, die Sie gerade nannten, gehören ja sogar die Arbeitgeber, die das auch fordern. Sie erwarten also jetzt, alle, die Sie da genannt haben, dass sich die Politik sozusagen zum Durchsetzer dieser Kartelle macht?

Frank Bsirske: Das ist richtig, wobei man sich ja nichts vormachen darf. Auch unter der Tarifeinheit, die bis jetzt galt, sind ja Organisationen wie die Vereinigung Cockpit oder die GDL entstanden. Und die werden Tarifpartner bleiben. Und diejenigen, die sich in die Lage versetzen, mehrheits- und tarifmächtig zu werden, werden hinzukommen. Das heißt, der Zwang weiter um Mitglieder zu werben und auch zueinander in Konkurrenz zu stehen und sich behaupten zu müssen, dieser Zwang bleibt so, wie es bisher der Fall war, auch in Zukunft erhalten.

Deutschlandradio Kultur: Wie kommt es denn dann, dass beispielsweise der Deutsche Beamtenbund oder auch der Marburger Bund sich eigentlich ganz zufrieden mit dem Bundesarbeitsgerichtsurteil zeigen und sagen, es dürfe endlich kein Diktat einer Mehrheitsgewerkschaft mehr geben?

Frank Bsirske: Also, Tatsache ist doch, dass wir von einem Diktat einer Mehrheitsgewerkschaft in keinem der von Ihnen genannten Bereiche überhaupt reden können.

Deutschlandradio Kultur: Die reden davon.

Frank Bsirske: Erstens, der Beamtenbund verhandelt zusammen mit uns im öffentlichen Dienst die Tarifverträge. Zweitens VC, also Vereinigung Cockpit, ist unter dem Grundsatz der Tarifeinheit entstanden und tarifmächtig geworden. Da ändert sich aus meiner Sicht erst mal überhaupt nichts. Was passiert ist, dass – sagen wir mal – eine gewisse Hürde vor der weiteren Zersplitterung und Entsolidarisierung von Belegschaften errichtet wird, das ist eigentlich auch eine Maßnahme, die im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer gewerkschaftlichen Organisation liegt. Es ist ja merkwürdig, dass dieselben Leute, die beispielsweise angesichts des Lokführerstreiks eine Einschränkung des Streikrechtes gefordert haben, jetzt das Hohelied der Tarifpluralität singen.

Deutschlandradio Kultur: Mal ganz unabhängig vom Urteil des Bundesarbeitsgerichts muss sich ja der DGB, müssen sich die Gewerkschaften neu aufstellen. Sie verlieren Mitglieder, 2009 – das hat jemand ausgerechnet – 203 Mitglieder pro Tag. Was macht die Gewerkschaften für viele so unattraktiv?

Frank Bsirske: Zunächst einmal kann ich für ver.di sagen, dass wir sowohl 2008 wie auch 2009 bei den erwerbstätigen Mitgliedern einen Zuwachs hatten.

Deutschlandradio Kultur: Aber insgesamt haben Sie verloren.

Frank Bsirske: Ja, wir haben überproportional Austritte im Übergang vom Arbeitsleben in die Rente und im Übergang von Beschäftigung in Arbeitslosigkeit. Sie haben gefragt, was sind die Bedingungen, die Entwicklungen der letzten Jahre. Ich glaube, dass der Umbruch in Richtung einer Dienstleistungsgewerkschaft mit zunehmender Beschäftigung in Branchen mit sehr prekären Arbeitsbedingungen und mit großer Unsicherheit, mit zum Teil massiver Behinderung von Selbstorganisationsversuchen der Beschäftigten – sei es von Betriebsratsgründungen, sei es in Form gewerkschaftlicher Organisierung – mit dazu beigetragen hat, dass es schwieriger geworden ist, in bestimmten Branchen gewerkschaftlich tätig zu werden, dass bewusst, auch gezielt Menschen eingeschüchtert werden. Nehmen wir Lidl oder das, was wir bei Schlecker erlebt haben, wo im Grunde versucht wird, Ansätze von gewerkschaftlicher Organisierung möglichst im Keim zu ersticken. Und sich dagegen durchzusetzen, das ist nicht einfach, obwohl es gelingt.

Wir haben jetzt beispielsweise bei Schlecker einen Organisationsgrad von über 40 Prozent der Beschäftigten. Und da geht es um Frauen, die zum Teil völlig alleine in den Filialen stehen. Und wie wichtig es ist, auch in solchen Bereichen Gewerkschaft zu haben und gewerkschaftliche Handlungsmacht entfalten zu können, das hat nicht zuletzt ja gerade das Beispiel Schlecker gezeigt, der sich seiner Belegschaft entledigen wollte und auf eine Leiharbeitsfirma umstellen wollte bzw. Arbeitsverträge angeboten hat im Wechsel von Altfilialen auf neue Filialen, wo der Lohn glatt halbiert werden sollte, und das unter gleichzeitiger Verschlechterung der Arbeitsbedingungen insgesamt.

Deutschlandradio Kultur: Aber es gibt doch auch Junge und Kreative, die mit ihren Laptops unterwegs sind, die die Jobs wechseln, die damit ganz glücklich sind, die die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nicht so richtig sexy finden und nicht unbedingt bei Ihnen die Türen einrennen. Und das ist eine ganze Menge.

Frank Bsirske: Das stimmt, es ist völlig richtig, dass nicht alle die Gewerkschaft ver.di sexy finden. Auf der anderen Seite haben wir beispielsweise 30.000 Selbständige organisiert, also Solo-Selbständige, die genau dem Typ entsprechen, den Sie jetzt auch ansprechen, also: jung, selbständig, kreativ und gleichzeitig doch auch interessiert daran, sich eine Vorstellung davon zu machen, wer hilft mir einfach in Auseinandersetzungen, wer gibt eine Orientierung beispielsweise über Gehaltsspiegel, wo kann ich für komplizierte Rechtslagen, gerade im Selbständigenbereich, auch Rechtsschutz bekommen, und die sich dann an die Gewerkschaft wenden und sich auch organisieren.

Insofern gibt es alle Sorten gewissermaßen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Selbständigen. Und der Gedanke, dass es Sinn macht, auch beispielsweise als Selbständiger in die Gewerkschaft zu gehen und sich dort Hilfe zu sichern mit anderen zusammen, der fasst durchaus auch in solchen Bereichen Fuß.

Deutschlandradio Kultur: Diese Zukunftsdebatte, die wir jetzt versuchen mit Ihnen zu führen, die wird ja sicherlich auch innerhalb der Gewerkschaften geführt, aber man hat den Eindruck, das geschieht alles irgendwie zu leise. Man hört da wenig von. Könnte man da auch offensiver werden?

Frank Bsirske: Wir bemühen uns ja doch, deutlich Flagge zu zeigen und deutlich zu machen, dass die Gewerkschaften es sind, die für fundamentale moralische Werte in unserer Gesellschaft einstehen. Dass Arbeit nicht arm machen darf, dass Arbeit nicht entwürdigen darf, das ist ja eine ganz zentrale Botschaft, die wir in unterschiedlichsten Auseinandersetzungen – sei es in Auseinandersetzungen um Mindestentlohnung, um die Leiharbeit, um auch gute Arbeit insgesamt – aussenden. Und da, finde ich, ist ver.di schon ein Faktor, der in der Gesellschaft ernst genommen wird, der wahrgenommen wird und der auch Gewicht hat in vielen Auseinandersetzungen, wie das von mir beispielhaft genannte Schleckerthema ja auch zeigt.

Deutschlandradio Kultur: Also auch ein politisches Mandat für die Gewerkschaften, über das ökonomische hinaus?

Frank Bsirske: Unbedingt auch ein politisches Mandat. Es geht ja nicht nur darum, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu beeinflussen und aktiv mitzugestalten, sondern vieles entscheidet sich ja auch im Sozialstaat. Wie bin ich im Alter abgesichert? Wie steht es eigentlich um die Absicherung bei Krankheit? Wie sind die Bedingungen geregelt, wenn ich arbeitslos werde, oder wie sieht das aus mit der Handlungsfähigkeit unserer Städte? Können die kulturelle Initiativen, soziale Initiativen überhaupt noch finanziell stützen?

Das sind Fragen, die in der Politik entschieden werden und wo es unbedingt notwendig ist, auf das, was da politisch geregelt wird, in der Richtung geregelt wird – Steuerpolitik soll ja steuern –, auf diese Bedingungen Einfluss zu nehmen, Flagge zu zeigen und im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Einfluss zu nehmen.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Themen, die Sie jetzt genannt haben, also dieses politische Mandat, das über die Tagespolitik hinausgeht, das wird in der Öffentlichkeit nicht unbedingt mit den Gewerkschaften in Verbindung gebracht, nicht mit dem DGB, nicht mit ver.di. Selbst Herr Vassiliadis sagt: Wir müssten endlich innerhalb der Gewerkschaften mal anfangen, über diese Zukunftsfragen zu diskutieren und nicht auf Tagespolitik reagieren. – Ist der da alleine in der gemeinsamen Gruppe? Oder ist da ein Kern Wahrheit drin?

Frank Bsirske: Vieles von dem, was tagespolitische Frage ist, ist natürlich auch Zukunftsfrage. Nehmen Sie doch zum Beispiel das Rententhema mit der Rente erst ab 67. Da ist ja der vorläufige Schlussstein nach mehreren sogenannten Rentenreformen gesetzt worden, die in der Summe jetzt dazu führen, dass die heute 20-, 25-Jährigen künftig 35 bis 37 Beitragsjahre brauchen werden, um bei der gesetzlichen Rente auf Hartz-IV-Niveau zu kommen. Was machen eigentlich Menschen, die - sagen wir mal - nur 75 Prozent des Durchschnittslohns verdienen? Da wird in der Tagespolitik, weit, weit, weit nach vorne wirkend, Zukunftspolitik gemacht. Und da ist Gewerkschaft gefordert. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass die Rente erst ab 67 so unpopulär ist in den Betrieben.

Und es ist kein Zufall, dass wir als Gewerkschaft dieses Thema anpacken werden und wollen, wenn im Herbst die Bundesregierung dem gesetzlichen Prüfauftrag nachkommen muss, zu gucken, ob denn im Lichte der Arbeitsmarktentwicklung und der Entwicklung in der Gesellschaft insgesamt an dem Eintritt in die Rente erst ab 67 festgehalten werden soll oder nicht. Und da ist unsere Erwartung ganz klar, dass die Krise zum Anlass genommen wird zu sagen, davon lassen wir die Finger. Das ist ein Schritt in die falsche Richtung – allemal in einer Situation, wo viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich gegenwärtig gar nicht so richtig vorstellen können, wie sie unter den gegenwärtigen Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz das 65. Lebensjahr eigentlich erreichen sollen, geschweige denn demnächst das 67.

Deutschlandradio Kultur: Erwarten Sie einen heißen Herbst mit Blick darauf, also das Rententhema, aber auch mit Blick auf die angedrohten Sozialkürzungen, also Streiks, Demonstrationen bis möglicherweise mal zu einem Generalstreik?

Frank Bsirske: Ich habe nicht zu denen gehört, die heiße Herbste angekündigt haben oder andere heiße Jahreszeiten. Aber eins kann ich sagen: Wir werden diese Themen in die Betriebe tragen. Das gilt für das Ganze Thema der Ungerechtigkeit in der Steuerpolitik. Das gilt für das Thema des Verrentungsalters. Das betrifft Fragen der Gesundheitspolitik. Diese Kopfpauschale, an der da nach wie vor gearbeitet wird, das ist ein Schritt in die falsche Richtung. Das betrifft aber auch die Situation in unseren Städten und Gemeinden, die wirklich in eine Notlage geraten. Und da hängt ja sehr vieles dran, was sozialstaatliche Leistungen vor Ort auch betrifft. Das werden wir in die Betriebe tragen. Und dann werden wir sehen, wie aus den Betrieben heraus darauf reagiert wird.

Deutschlandradio Kultur: Herr Bsirske, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Frank Bsirske: Ich bedanke mich auch.
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