"Ein politisch eingreifender Schriftsteller"

Helmut Böttiger im Gespräch mit Joachim Scholl · 16.10.2012
Mit dem Aufstieg von Günter Grass "wurde ein neues Kapitel in der deutschen Literaturgeschichte aufgeschlagen", sagt der Kritiker Helmut Böttiger. Allerdings stünde Grass auch für die Rolle der politischen Schriftsteller, die nach 1968 ihren Höhepunkt überschritten hatten.
Joachim Scholl: "Warum ich? Warum nicht Grass?" soll Heinrich Böll spontan ausgerufen haben, als man ihm mitteilte, dass er, Böll, den Nobelpreis für Literatur bekommt. Das war 1972 und drückt aus, welchen Rang man Günter Grass schon damals zuwies, nicht nur unter Kollegen. Inzwischen ist er selber Nobelpreisträger geworden und mit Abstand wohl der berühmteste lebende deutsche Schriftsteller. Und immer noch bebt das Feuilleton jedes Mal, wenn Grass das Wort ergreift, literarisch oder essayistisch. Heute feiert Günter Grass seinen 85. Geburtstag. Im Studio ist jetzt der Literaturkritiker Helmut Böttiger. Guten Tag!

Helmut Böttiger: Guten Tag!

Scholl: Sie sind selber Jahrgang 1956, Herr Böttiger, Sie waren zwei Jahre alt, als Günter Grass die literarische Bühne mit dem Paukenschlag der "Blechtrommel" betrat. Wann haben Sie Grass eigentlich zum ersten Mal gelesen?

Böttiger: Ja, ich bin in Baden-Württemberg zur Schule gegangen, und Anfang der 70er-Jahre, als es langsam ernst wurde mit der Lektüre und mit der Literatur, da habe ich den Namen irgendwoher gehört, und ich weiß, dass in der zehnten Klasse in Baden-Württemberg die Lehrerin, die ein bisschen jünger war und ein bisschen liberaler, fragte, habt ihr denn einen Wunsch, was wir mal als Roman lesen könnten, und ich schrie, obwohl ich nicht genau wusste, worum es sich handelt: Die Blechtrommel will ich lesen! Dann sagte die Lehrerin aber ganz verkniffen: Nein, die Blechtrommel nicht.

Scholl: Das kommt nicht in Frage. Noch schlimmer wäre, glaube ich, "Katz und Maus" gewesen, wo es onanierende Teenager im Zweiten Weltkrieg gab. Bleiben wir gleich mal bei der "Blechtrommel", Herr Böttiger. Im Herbst erscheint von Ihnen ein Buch, eine große, umfassende Monografie über die Gruppe 47. Und dort hat eben 1958 ein junger Schnauzbart von 31 Jahren aus dem noch unveröffentlichten Manuskript "Die Blechtrommel" gelesen. Was war das für ein Auftritt?

Böttiger: Die Gruppe 47, das sieht man heute ein bisschen falsch, war damals eigentlich völlig unbekannt. Das war so eine Ansammlung von jungen Autoren, die die etablierten Feuilletonisten überhaupt nicht ernst nahmen. Und Günter Grass war ein Bildhauer, einer, der Gedichte geschrieben hatte, und der trat plötzlich auf unter Hirschgeweihen im Gasthaus "Adler" in Großholzleute in der entlegenen Provinz, und die Leute, die anwesend waren bei dieser Lesung, die erzählen alle, nach zwei, drei Sätzen waren alle wie gebannt. Es muss eine ungeheure elektrisierende Wirkung gehabt haben, wie Günter Grass mit seinen verschlungenen Sätzen in dieses Nachkriegsdeutschland, in dieses Adenauer-Deutschland hineinfuhr. Und die Leute, die anwesend waren, wussten, das war jetzt wirklich ein großes Ereignis. Und man kann aus heutiger Sicht sagen, das ist wirklich eine Zäsur gewesen. 1958, dieser Auftritt von Günter Grass bei der Gruppe 47, da wurde ein neues Kapitel in der deutschen Literaturgeschichte aufgeschlagen.

Scholl: Er hat ja dann relativ rasch nachgelegt. 1961 erschien die Novelle "Katz und Maus", jene ominöse, die ich schon kurz erwähnt habe. Da gab es gleich einen Prozess wegen Pornografieverdacht. Zwei Jahre später erschien wieder ein voluminöser Roman, die "Hundejahre". Zusammengenommen sind diese drei ersten Prosawerke, nennt man heute ja die "Danziger Trilogie", so wird sie in der Weltliteratur genannt. Wie hat Günter Grass es eigentlich mit dieser auch doch ja sehr deutschen Thematik geschafft, wirklich zum Weltliteraten zu werden? Weil, glaube ich, so ab Mitte der 60er-Jahre war er auch international eine Marke.

Böttiger: Das ist tatsächlich der Anschluss an die internationale Moderne. Und Günter Grass hat ja Alfred Döblin immer als seinen Lehrer bezeichnet. Das kann man tatsächlich in dem Zusammenhang sehen, dass durch diese Schreibweise von Günter Grass in der Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal mit der westlichen Moderne gleichgezogen wurde. Grass war eigentlich sehr autonom, und er hat sich diese Sprache selber in Paris erarbeitet, als er drei Jahre lang in seiner Waschküche da am Place d’Italie war, neben den schreienden Kindern, das hat er öfter eindringlich beschrieben, und unter welchen Umständen er dieses Werk in Szene gesetzt hat. Und er war natürlich im Zusammenhang in Paris auch mit anderen Autoren, und gleichzeitig ist es zum ersten Mal, lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Gegenwartsroman, der die verdrängte Vergangenheit richtig fulminant thematisierte, wirklich darauf zu sprechen kommt, was in den kleinbürgerlichen Psychen der Deutschen alles stattgefunden hat. Und da war die formale, moderne Schreibhaltung, verbunden mit einer völlig ungeahnten politischen Dimension.

Scholl: Deutschlandradio Kultur. Wir sind im Gespräch mit dem Kritiker Helmut Böttiger über Günter Grass. Der Nobelpreisträger wird heute 85 Jahre alt. Man hat Günter Grass ja literarisch einen Rabelais genannt, also einen wilden Mann. Und ebenso wild wurde er auch als Rhetor. In den 60er-Jahren, Ende der 60er-Jahre engagierte sich Günter Grass ganz offen eben auch als einer der ersten Schriftsteller für die SPD, für Willy Brandt, fuhr im VW-Bus Tausende von Kilometern, war dann, wie man hört oder wie es eine Legende sagt, beleidigt, dass er nicht zum Minister bestellt wurde von Willy Brandt. Aber mit diesem Wahlkampf war auch der Politiker oder der politische Schriftsteller Günter Grass in der Welt. Und als solchen nimmt man ihn ja mittlerweile ja fast nur noch wahr. Wie war das in den 60er- oder späten 60ern, in den 70er-Jahren – da war ja Günter Grass durchaus so etwas wie, ja, das Gewissen der Nation, oder?

Böttiger: Das war natürlich ein Land der alten Männer. Es wurde von alten Männern regiert. Adenauer war schon in den 20er-Jahren präsent als Politiker, und es lag so ein bisschen Mehltau über dem Land. Wenn man sich die Zeit wirklich genau anschaut, dann kommt man an diesem Mief nicht vorbei. Und die Schriftsteller, die hatten tatsächlich die Aufgabe, oder nahmen die Aufgabe ernst, das Gewissen der Nation zu sein. Und die Euphorie, die um Willy Brandt herum entstand der 60er-Jahre – er wurde ja dann 1969 Bundeskanzler – nicht zuletzt unter der großen Hilfe der Intellektuellen und der Schriftsteller. Diese Euphorie kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Das war ein Hoffnungsträger. Und Grass steht auch dafür, für diese Rolle der Schriftsteller, die allerdings dann nach 1968 ihren Höhepunkt überschritten hatte. Und für Grass selber muss man sagen, dass dieser Einsatz für die Sozialdemokratie gleichzeitig eine Schwächung seiner eigenen Literatur bedeutete.

Scholl: Nun hat sich Grass es nie nehmen lassen, sich einzumischen, wie man es immer so sagt, wenn die Schriftsteller mal das Wort ergreifen, was über ihre Literatur hinausgeht. Es hat ihm allerdings dann schwer geschadet, als vor einigen Jahren herauskam, er hat es selbst öffentlich gemacht in einem Interview, dass er in den letzten Kriegsjahren*) Mitglied, als junger, ganz blutjunger Kerl, Mitglied der Waffen-SS war. Wie würden Sie einschätzen, was dieses späte Bekenntnis für die Rolle von Günter Grass auch in der Öffentlichkeit bedeutet?

Böttiger: Das ist natürlich ein sehr differenziert zu behandelndes Thema. Diese Rolle in der Waffen-SS wird bei Weitem überschätzt. Das war für einen 16-Jährigen gar nicht zu überblicken, was er damals machte. Und das wurde natürlich von interessierten Kreisen dann im Nachhinein dramatisiert. Und man kann es nur vor dem Hintergrund sehen, dass Grass zu diesem Zeitpunkt eine Rolle als moralischer Apostel hatte, als Leitartikler, als einer, der immer zu jedem politischen Thema das Wort ergriff. Und er hatte sich eigentlich in der Öffentlichkeit ein bisschen überlebt, also er hatte sich viele Feinde geschaffen durch sein unerschütterliches Auftreten, dass er immer wieder dieselben moralischen, politischen Positionen wiederholte. Und das führt dann dazu, dass man nach kleinen wunden Punkten in der Biografie suchte. Also das sogenannte Vergehen, dass er da wirklich als Soldat der Wehrmacht in der Waffen-SS war, das kann man wirklich als Jugendsünde verbuchen, und er hat es in seiner Haltung in den 50er- und 60er-Jahren natürlich bei Weitem ausgeglichen, wo er wirklich auf die wunden Punkte der nationalsozialistischen Vergangenheit hinwies.

Scholl: Sein Zorn ist ja mit den Jahrzehnten nicht milder geworden. Wir erinnern uns noch an sein Engagement, als es um die Debatte, die Einheitsdebatte ging 1990, um seinen furiosen Roman "Das weite Feld", den der Kritiker Marcel Reich-Ranicki öffentlichkeitswirksam auf einem "Spiegel"-Titel zerriss. Es ging eigentlich auch immer weiter bis hin zu den letzten lyrischen Äußerungen von Günter Grass über Israel. Im Ausland ist Günter Grass eigentlich immer noch unbestritten der berühmteste deutsche Schriftsteller. Im Inland ist er wohl mit Abstand auch der umstrittenste. Wie sehen Sie das?

Böttiger: Also es ist schon eine interessante Biografie. Das Problem ist, dass Grass, sagen wir mal Anfang der 80er-Jahre ungefähr, diese popkulturelle Wende in der bundesdeutschen Diskussion nicht mitgemacht und nicht begriffen hat. Dass da eine neue Generation herangewachsen war, die den Konsum als selbstverständlich empfunden hat, da hineingewachsen ist und daraus eigene ästhetische Prämissen ableitete – das hat Grass überhaupt nicht begriffen. Grass blieb in den 60er- und 70er-Jahren und er führte das fort als ein politisch eingreifender Schriftsteller, der in den 80er-Jahren dann eigentlich sich überlebt zu haben schien.

Wobei man doch immer wieder feststellen muss, Grass hat des Öfteren sehr hellsichtig auch auf politische Umstände hingewiesen. Wenn man heute nachliest, wie er die 68er-Generation einschätzte, dann wirkt das sehr klug. Das Problem ist, dass er für eine nachwachsende Generation, die ganz andere Interessen hatte, immer noch wie ein alter Mann erscheint, so wie ein Hadubrand, der aus ganz alten Zeiten moralische Positionen vertritt. Und das hat dann lange nicht mehr interessiert.

Ich bin mir aber gar nicht so sicher, ob er dann im weiteren historischen Abstand nicht immer noch eine bedeutende Rolle einnimmt als einer, der für die Geschichte der Bundesrepublik auf jeden Fall sehr maßgebend gewesen ist. Und auch später, in seiner Rolle als Repräsentant der einzige ist, der an Thomas Mann anknüpft in dieser politischen Funktion des Schriftstellers. Ob diese Funktion heute allerdings dieselbe Bedeutung haben kann wie damals Thomas Mann, darüber kann man sich streiten.

Scholl: Günter Grass wird 85. Wir haben seine Leistungen, seine Literatur, sein Engagement reflektiert mit dem Literaturkritiker Helmut Böttiger. Herr Böttiger, dich danke Ihnen!

Böttiger: Danke auch!

*) Korrektur der Redaktion: Gemeint sind die letzten Kriegsmonate

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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