Ein Nachtschwärmer in Paris

21.08.2013
In den 1920ern kam er aus Ungarn nach Paris, wohnte in einem abgewetzten Hotel, flanierte nachts durch die pulsierende Metropole und fotografierte: Brassaïs Schwarz-Weiß-Bilder zeigen Prostituierte, die Bohème, Ganoven, aber auch Straßen und Gassen. Ein Bildband bündelt alle Nachtaufnahmen Brassaïs.
Die Wände waren von den Dämpfen schon derart zerfressen, dass der Hoteldirektor fürchtete, sie könnten einstürzen. Dennoch ließ er seinen Dauergast gewähren. Tatsächlich nutzte Brassaï über Jahre hinweg das Bad seines Zimmers im Pariser Hotel des Terrasses als Dunkelkammer.

Hier entwickelte der junge ungarische Fotograf die Ausbeute seiner nächtlichen Streifzüge und archivierte in Regalen aus Seifenkisten - gestapelt bis unter die Decke - seine Motive. Von 1932 an in verschiedenen Büchern und Zeitschriften veröffentlicht, begründeten sie schließlich seinen Weltruhm. Ein neuer Bildband versammelt jetzt erstmals alle Nachtaufnahmen Brassaïs aus dem Paris der 1930er-Jahre, darunter bisher auch unveröffentlichte aus seinem Nachlass.

Gyula Halász, der sich auf seinen Geburtsort anspielend Brassaï nannte, war 1924 im Alter von 25 Jahren nach Paris gekommen und hatte sich vom turbulenten Nachtleben der Stadt "verzaubern" lassen. "Ich führte das Leben eines Nachtvogels, ging bei Sonnenaufgang schlafen, stand bei Sonnenuntergang wieder auf und durchquerte die Stadt vom Montmartre bis zum Montparnasse."

Das Auge von Paris
Berührungsängste kannte er nicht. Brassaï fotografierte in Nachtclubs und Schwulenbars, in Varietés und Bordellen, er porträtierte Nachtarbeiter und Ganoven, Prostituierte und Feierwütige jedweder Couleur. Aber auch Stillleben wie Gemüsekarren in den Markthallen, im Regen schimmerndes Kopfsteinpflaster oder architektonische Details fing "das Auge von Paris" (Henry Miller) in atemberaubenden Schwarz-Weiß-Bildern ein.

So konzentriert wie hier waren die Bilder noch nie zu sehen. Die Herausgeber Sylvie Aubenas und Quentin Bajac haben ihre Zusammenstellung klug sortiert und sensibel arrangiert. Sie lassen den Fotografien Raum. Viele sind ganzseitig abgebildet, und wo sich mehrere Bilder eine Seite teilen, kann der Betrachter ähnliche Sujets vergleichen oder Serien studieren. Bestechend sind zudem die elegante, hoch ästhetische Gestaltung des gesamten Buches und die herausragende Druckqualität. Beides unterstreicht Brassaïs Kunst mit ihren starken Kontrasten und der poetischen Lichtführung in wunderbarer Weise.

Auf eine Zigarettenlänge
Dabei war die Technik dem ungarischen Nachtschwärmer gar nicht so wichtig. Die Länge einer Gauloise beziehungsweise einer länger brennenden Boyard diente ihm als Belichtungsmaß, wie sich den Begleitessays entnehmen lässt. Hier werden zudem Brassaïs Vorbilder genannt, Genese und Chronologie seiner Werke nachgezeichnet und der zeitgeschichtliche Kontext erläutert. Viele Zitate aus den Briefen an die Eltern oder Aussagen von Freunden wie dem Schriftsteller Henry Miller oder dem Fotografen André Kertész lassen auch den Menschen Brassaï aufscheinen. Besonders originell ist schließlich die Bibliographie, die unter anderem sämtliche Romane zum Pariser Nachtleben auflistet.

So sind die Betrachter dieses Bandes bestens gerüstet, um in eine Zeit einzutauchen, die sich nicht zuletzt wegen der hier abgebildeten und zitierten Kunstwerke tief ins kollektive Gedächtnis eingeprägt hat.

Besprochen von Eva Hepper

Sylvie Aubenas / Quentin Bajac (Hg.): Brassaï - Flaneur durch das nächtliche Paris
Aus dem Französischen von Matthias Wolf
Schirmer/Mosel Verlag, München 2013
312 Seiten, 68,00 Euro