Ein literarischer Film noir

03.10.2013
Der Tod eines jungen Mädchens lässt einen Journalisten nicht ruhen – seine Recherchen werden zu einer düstern Mission. Die US-Autorin Marisha Pessl zieht in ihrem Roman alle Register. Mit viel Gespür für Dramaturgie gelingt ihr ein beeindruckendes Verwirrspiel.
Wird eine nächtliche Filmszene am Tag gedreht, so spricht man von einer "amerikanischen Nacht". Eine solche "amerikanische Nacht" erlebt der Protagonist in Marisha Pessls Roman, eine Dunkelheit, die vielleicht nur Täuschung ist. Ashley, die 24-jährige Tochter des berühmten Horror-Regisseurs Stanislas Cordova, wird tot in einem Aufzugschacht gefunden. War es Selbstmord, ein Unfall, womöglich sogar Mord? Diese Frage treibt den Journalisten Scott McGrath um, denn er hat mit Cordova noch eine Rechnung offen. Vor Jahren kostete ihn ein in einer Talkshow unbedacht ausgesprochener Satz über den geheimnisvollen Filmemacher die Karriere und seinen guten Ruf - nun wittert er die Chance, sich zu rehabilitieren.

So macht sich Scott gemeinsam mit zwei ihm zugelaufenen Mitrechercheuren, der jungen Möchtegern-Schauspielerin Nora und dem charmanten Junkie Hopper, daran, Ashleys Spuren zu folgen - und das Trio landet direkt in einem Szenario, das einem Cordova'schen Horrorstreifen entsprungen sein könnte. Scott, Hopper und Nora stoßen auf geheime Seiten im Internet, auf mysteriöse Aschekreise, einen verborgenen Club, Flüche und schwarze Magie, und je näher sie Cordova kommen, desto düsterer und rätselhafter wird ihre Mission. War die hochbegabte und faszinierende Ashley tatsächlich vom Bösen gezeichnet, womöglich sogar eine übernatürliche Kreatur? Wen hat sie nach ihrer Flucht aus einer psychiatrischen Anstalt gesucht und warum? Und welche Rolle spielt Cordova selbst, der dämonische Unbekannte, der seit Jahrzehnten nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen ist und dessen berüchtigte Filme sowohl die beteiligten Schauspieler als auch die Zuschauer an ihre Grenzen und darüber hinaus führen?

Mit einem sicheren Gespür für Dramaturgie entfaltet Marisha Pessl ein beeindruckendes Verwirrspiel, ein filmisches Spiegelkabinett, in dem die Grenze zwischen Kulisse und Realität verschwimmt. Unterstrichen wird dies durch zahlreiche Abbildungen. Faksimiles von Zeitungsartikeln und Polizeiberichten, Fotos und Internetseiten lassen die Romanhandlung in die Wirklichkeit schwappen, ebenso wie die beiläufige Erwähnung von Größen wie Stanley Kubrick oder Alfred Hitchcock und Anspielungen auf Filme von "Psycho" bis "Akte X".

Ein perfekter Roman also? Nicht ganz. Mitunter wird die Logik ein wenig brüchig, als hätte die Autorin zu viel gewollt und sich in ihrer eigenen Dunkelheit verlaufen, und ein paar einzelne Fäden bleiben im Nirgendwo hängen. Aber das sind verzeihbare Schwächen angesichts der Wucht der Handlung, der dichten Atmosphäre und dem reizvoll-gruseligen Spiel mit Mystik und Aberglauben, hinter dem stets Falltüren und Nebelmaschinen lauern können. Es ist ein Roman, in dem die Schwarz-Weiß-Töne dominieren, ein literarischer Film noir mit doppeltem Boden. Man kann nie sicher sein, ob es nicht womöglich um etwas ganz anderes geht, und vielleicht sind Schwefelgeruch und Voodoo-Zauber nichts weiter als Theaterdonner: täuschend echte Requisiten aus dem Fundus eines Cordova-Films.

Besprochen vonm Irene Binal

Marisha Pessl: Die amerikanische Nacht
Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2013
792 Seiten, 22,99 Euro
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