Ein Lehrstück aus dem Kalten Krieg

08.05.2013
Er war der DDR-Agent im Vorzimmer von Willy Brandt - doch hat Günter Guillaume wirklich wichtige Dinge "aufgeklärt"? Die Legende vom "Meisterspion" hält sich bis heute, wider besseres Wissen. In einer detailreichen Studie hat der Historiker Eckard Michels sie jetzt endgültig enttarnt.
Dass Geheimdienste im wirklichen Leben, allen populären Mythen zum Trotz, kein Ausbund an Effektivität sind, ist spätestens seit "Nine Eleven" klar und hierzulande anhand der NSU-Affäre wieder schmerzhaft erkennbar. Aber Geheimdienstgewese, vor allem Spionage, ist faszinierender Stoff und der Kalte Krieg voll davon. Und was die Effektivität angeht – im deutsch-deutschen Vergleich genoss die Auslandsaufklärung der Stasi (HVA) unter dem schillernden Markus Wolf einen Ruf wie Donnerhall, nicht zuletzt dank der Legende vom "Meisterspion Guillaume".

Sie hält sich, wider besseres Wissen. Jetzt hat der Historiker Eckard Michels sie endgültig "enttarnt". Folgt man ihm – und das lohnt sich – speist sie sich aus zwei Quellen: aus einer fast mythischen Überhöhung der Macht von Bundeskanzlern und der Person Willy Brandt, durch die Günter Guillaume offenbar mit erhöht wird. Und aus dem mangelnden Interesse an Geheimdienstforschung, das der in London lehrende Historiker bei seinen deutschen Kollegen sieht. In angelsächsischen Ländern wäre Guillaume im kollektiven Gedächtnis wohl längst, was er im Leben war: ein jovial-biederer Durchschnittsresident, in Sachen Fleiß und Intelligenz eher suboptimal.

Wie kann denn so einer zum persönlichen Berater eines Bundeskanzlers aufsteigen? Michels gibt die Antwort, indem er nicht nur Verschlussakten des Kanzleramts auswertet, sondern alles Biografische einbettet in die historische Darstellung der beteiligten Dienste und ihrer modi operandi. Das Ergebnis ist eine detailreiche, minutiös belegte Fallstudie, in jedem Sinn erbaulich, weil voller "Ironie der Geschichte".

Die Blödigkeit der sozialistischen Ideologie
Zum Beispiel: Wenn, wie der Volksmund sagt, Planung das Ersetzen des Zufalls durch den Irrtum ist, dann sind Geheimdienste in einem der Planwirtschaft verschriebenen Staat auf Irrtum abonniert. Tatsächlich irrt die HVA im Fall Guillaume mehrfach und besonders ironisch bei seiner Frau Christel, geborene Boom. Er soll die hessische SPD "aufklären". Aber sie, die solidere und intelligentere von beiden, macht sehr schnell geheimdienstrelevante Karriere, bedient tote Briefkästen, leistet Dechiffrier- und Kurierarbeit, erzieht nebenbei den Sohn - bleibt aber ihrem Mann Günther auch nach Protesten unterstellt.

Ein Lehrstück über die Blödigkeit einer Ideologie, der die Geschlechterfrage als "Nebenwiderspruch" gilt. Die doppelte Ironie: Ohne die Irrtümer, sie betreffend, hätten all die Zufälle womöglich keine Chance gehabt, die 1972 ihn ins Kanzleramt katapultierten. Ein Aufstieg, den die HVA im Traum nicht geplant hatte und der auch deshalb möglich war, weil die westdeutschen Dienste längst von Guillaumes Stasi-Kontakten wussten - das aber geheim hielten.

Nach der Lektüre weiß man: Günter Guillaume hat nichts Legendäres "aufgeklärt", Christel Boom hätte das können: Sie sollte Sekretärin im Verteidigungsministerium werden, als beide im April 1974 doch noch aufflogen – seinetwegen. Und man ahnt, an der ganzen Guillaume-Geschichte stimmt irgendwie gar nichts, aber genau deshalb hat sie womöglich funktioniert. Das Buch von Eckard Michels ist ein Lehrstück über die Absurditäten des Kalten Kriegs.

Besprochen von Pieke Biermann

Eckard Michels: Guillaume, der Spion
Eine deutsch-deutsche Karriere
Ch. Links Verlag, Berlin 2013
414 Seiten, Format, 24,90 Euro
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