Ein Leben in Scherben

20.05.2010
Was gibt es Schwierigeres, als von Sprachlosigkeit zu erzählen? Der Amerikanerin Ann Dee Ellis ist das in ihrem zu Recht gelobten Debüt "Es.Tut.Mir.So.Leid." auf eindringliche Weise gelungen. Nun ist ihr zweiter Jugendroman erschienen, sein Titel "Alles in Ordnung". Und die Vermutung, dass dieses "Alles in Ordnung" nur eine abwehrende Behauptung sein könnte, bestätigt sich schnell.
Mazzy lässt niemanden ins Haus. "Alles in Ordnung" sagt sie und schlägt den Nachbarn die Tür vor der Nase zu. Dass aber gar nichts in Ordnung ist, wird schon in den ersten Szenen klar: Mazzys Mutter, früher eine schöne und erfolgreiche Künstlerin, liegt im Bett und steht nicht mal zum Duschen auf. Sie nimmt Tabletten, ist kaum ansprechbar und steckt in einer tiefen Depression. Mazzys Vater, ein Sportmoderator, hat sich aus dem Staub gemacht und ruft nur selten an, eine Bekannte kauft für die Familie ein, die Frau vom Sozialdienst ist machtlos.

Was ist passiert? Diese Frage hängt unausgesprochen und bedrohlich von Anfang an über dem Roman. In einzelnen Wörtern und Nebensätzen deutet sich schrittweise ein schreckliches Unglück an, das zum Ende hin immer deutlicher beschrieben wird. Wie es langsam und behutsam entdeckt wird, das ist ausgesprochen spannend, und welche zerstörerische Folgen es für die Familie hat, das erfährt man auf jeder Seite.

Mazzy versucht, nach außen die Fassade "Alles in Ordnung" aufrecht zu erhalten, um die Familie zu retten. Aber an der Spannung zwischen Fassade und Wirklichkeit geht sie fast kaputt.

Mazzy erzählt die Geschichte ihrer Familie selbst, in ganz kurzen Kapiteln, die manchmal nur einen Abschnitt lang sind und als Überschrift meist nur ein Wort haben. Einen Namen, ein Gefühl oder einen Begriff: "Mom", "Dad", "Zermalmt", "Wunder" oder "Beerdigung". Einzelne Erlebnisse zerlegt sie in ganz viele, kurze Erzählmomente, dadurch scheint die Zeit fast stillzustehen. Zerhackt wirken Mazzys tagebuchartige Notizen und Erinnerungen, zerbrochen wie ihr Leben in viele scharfkantige Erzählsplitter. In schmerzhafte, aber auch glänzende Scherben.

Stockend und kurz angebunden erzählt Mazzy die komplizierte Geschichte ihrer Familie, manchmal fast im Staccato. Sie will eigentlich nicht reden, beschränkt sich auf Ein-Wort-Dialoge, hält mühsam auch sprachlich die Fassade aufrecht. Nur ihrer schweigenden Mom erzählt sie alles, was sie sieht und erlebt. Redend versucht sie, die Mutter aus dem Bett zu zerren. Es ist fast unheimlich, wie stark dieses 13- oder 14-jährige Mädchen ist, das nie weint oder wütet.

Ann Dee Ellis verzichtet auf jede Spur von Pathos, Sentimentalität oder Kitsch. Und gerade diese Lakonie macht den Roman so anrührend und überzeugend. Äußert Mazzy dann doch einmal den Wunsch, einen "Sommer mit meiner Mom nicht im Bett" zu erleben, dann wirkt dieser umso eindringlicher.

Deprimierend ist "Alles in Ordnung" trotzdem nicht, aus mehreren Gründen. Zum einen ist Mazzy nicht allein, in dem gleichaltrigen Colby und der fetten Norma hat sie einfühlsame und geduldige Freunde. Außerdem schafft sie es, sich von Frustration und Traurigkeit immer wieder in bizarren Aktionen zu befreien. Kratzbürstig, provozierend und stur grenzt sie sich gegen alle Gutmenschen ab, sogar dem Vater gegenüber schafft sie es, ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Und so bleibt am Schluss die Hoffnung, dass alles zwar nicht gut, aber doch besser werden könnte.

Besprochen von Sylvia Schwab

Ann Dee Ellis: Alles in Ordnung
Aus dem Amerikanischen von Eva Plorin
Thienemann Verlag, Stuttgart 2010
192 Seiten, 12,95 Euro