"Ein Krieg gegen die Menschheit"

Von Mirko Schwanitz und Simion Chiochina · 26.01.2013
Holocaust in Osteuropa: Hunderttausende Menschen wurden allein in Moldawien ermordet. Doch dort sind die Massaker an Juden und Roma noch immer ein Tabuthema. Die Mächtigen haben Angst, die Verbrechen anzuerkennen, weil sie dann zugeben müssten, dass Rumänien daran beteiligt war.
Die Habad Liubavicistraße in Chisinau versinkt im Schlamm. Es ist bitterkalt in Moldovawiens Hauptstadt. Hier in der ältesten Synagoge in Chisinau treffen wir Michael Gordin. Als er über seine Kindheit erzählt, schießen ihm die Tränen in die Augen. Das Trauma seiner Jugend hat ihn sein ganzen Leben lang verfolgt. Denn im Alter von fünf Jahren kam er ins jüdische Ghetto von Miaskovka, einem kleinen Dorf, das heute in der von Moldawien abtrünnigen Separatisten-Republik Transnistrien liegt. Es war eines der 49 Lager und Ghettos, die der Hitler-Kollaborateur, der rumänische Marschall Antonescu, einrichten ließ. Michael betet im Flüsterton. In seinen zitternden Händen hält er ein Gebetbuch. Er betet für all jene, die in den Konzentrationslagern starben.

Als meine Familie im Ghetto leben musste, wurde mein Vater gezwungen beim Straßenbau zu arbeiten. Alles, was uns blieb, war zu beten. Um zu überleben, mussten wir Essensreste auf den Straßen sammeln. Mein Vater und wir vier Geschwister bekamen alle Typhus. Wir waren von August 1941 bis März 1944 in diesem Ghetto. Ich kam erst mit zehn Jahren in die Schule. Während des Krieges sind 15 unserer Verwandten umgekommen, meine beiden Großväter und meine Großmutter auch.

Michael zündet langsam eine Kerze an. In seiner kleinen jüdischen Gemeinde von Chisinau bleibt er meist allein mit seinen Erinnerungen. Öffizielle Gedenkfeiern gibt es in der Republik Moldova keine. Viele Politiker wollen nicht an die Verbrechen erinnert werden.

Irina Şihova ist eine der wenigen, die nicht locker lässt, die immer wieder versucht, das Thema ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Die Direktorin des jüdischen Museums in Chisinau hat jahrelang Beweise für die Massaker im damaligen Bessarabien gesammelt. Doch bis heute ist unklar, wo genau das Ghetto von Chisinau lag, sagt die Ärztin. Sie legt beim Denkmal für die Opfer des Holocaust Blumen nieder.

Irina Şihova: "Wir sind jetzt auf der Straße mit dem hebräischen Namen Jerusalem, Mitten im Zentrum von Chisinau. Irgendwo hier lag der Eingang zum Ghetto. Genau wissen wir es nicht, weil am Ende des Krieges während der Operation Iasi-Chisinau, alles zerstört wurde. Zu Beginn des Krieges lebten im Ghetto 25.000 Juden. Nach dem Krieg fanden wir nur 6 Überlebende."

Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts lebten in Moldowien eine Viertel Million Juden. Das waren etwa zwölf Prozent der Bevölkerung. Es gab 366 Synagogen, davon alleine 70 in Chisinau, sagt Irina Schihova.

Irina Şihova: "Am Ende des Jahres 1941 wurde offiziell bekannt gegeben, dass Bessarabien 'judenfrei' ist. Schätzungen gehen von 200.000 bis 700.000 jüdischen Opfern aus. Trotzdem leugnen viele Moldauer und Rumänen den Holocaust. Die Mächtigen haben Angst, die Verbrechen anzuerkennen, weil sie dann zugeben müssten, dass Rumänien daran beteiligt war."

Als Verbündete Hitlers waren zahlreiche Moldauer und Rumänen am Vernichtungskrieg beteiligt. Doch einige Politiker in Rumänien bezeichnen Marschall Antonescu sogar als Nationalheld, schimpft Marin Alla. Für den Verbandspräsident von "Tarna Rom" ist völlig unverständlich, warum sich Rumänen und Moldauer nicht zu ihrer Verantwortung bekennen. Schlimmer noch, warum viele Politiker diese Verantwortung leugnen. Der Holocaust an Juden und Roma ist in Moldova immer noch ein Tabuthema. Dabei sind die Beweise eindeutig, sagt Marin Alla. Viele seiner eigenen Verwandten wurden als Roma zu pseudo-medizinischen Menschenversuchen missbraucht.

Marin Alla: "Mein Vater kam mit zehn Jahren ins Lager. Familienangehörige meines Vaters wurden erschossen, verbrannt oder vergewaltigt. Alle Roma waren von diesem Unglück betroffen. Meine Verwandten haben bezeugt, dass sie für Menschenexperimente benutzt wurden. Es wurden Medikamente an ihnen getestet und Operationen ausprobiert. Mit den Roma wurden sehr, sehr viele medizinische Experimente gemacht. Es war kein Krieg mit Waffen, sondern ein Krieg gegen die Menschheit."

Zeitzeugen für die Verbrechen zu finden ist nicht schwer. Rund Hundert Kilometer von Chisinau entfernt liegt Pepeni. Das Dorf war Schauplatz eines Massakers. Der Moldauer Andrei Wulpe sah im Sommer 1941 mit eigenen Augen, wie in seinem Heimatdorf alle Juden zusammengetrieben wurden. Viele von ihnen waren seine Freunde und seine Klassenkameraden, sagt Andrei. Der 81-Jährige führt uns an den Ort der Grauens.

Andrei Wulpe: "Dort, wo Sie den Turm sehen, war das Blutbad. Später wurden alle gemeinsam in einem Grab verscharrt. Es waren ungefähr 300."

Direkt neben dem Haus von Andrei Wulpe ist ein Mahnmal. Auf dem Gedenkstein steht auf Rumänisch, Russisch und Hebräisch, "Im Gedenken an die Opfer der Nazizeit." Der Alte hat die Geschichte seines Dorfes in einem kleinen Notizbuch aufgeschrieben. Nun sprudeln die Worte aus seinem Mund heraus, als wäre es es erst gestern passiert.

Andrei Wulpe: "1941 war ich zehn Jahre alt. Ich erinnere mich noch gut, wie die deutsche Armee ins Dorf kam. In unserem Dorf lebten etwa 28 jüdische Familien. Die Deutschen gingen durch das Dorf und fragten nur: 'Bist du Jude?' Die Juden haben sich versteckt. Niemand kam heraus. Deshalb gingen die deutschen Soldaten wieder, ohne etwas erreicht zu haben. Nach ihnen kam dann die rumänische Militärverwaltung. Es war ein Sonntag, der 13. Juli. Sie haben alle in Gruppen zusammengetrieben und die Juden herausgesucht. Wir Kinder sahen zu, wie unsere jüdischen Schulkollegen in die Schule gesperrt wurden. Sie blieben am Montag und Dienstag. Am Mittwoch fand das Massaker statt."

Bis heute fragt sich Andrei, wie so etwas passieren konnte. Er hat darauf keine Antwort gefunden. Viele in Moldova wollen von solchen Geschichten nichts mehr hören. Seine Erinnerungen kann Andrei deshalb nur mit seinem kleinen Notizbuch teilen.

Die Synagoge in Chisinau ist die einzige, in der noch eine kleine jüdische Gemeinde aktiv ist. Michael Gordin hat gemeinsam mit einigen Freunden den Verein der ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager gegründet. Die wenigen Überlebenden des Holocaust in Chisinau treffen sich regelmäßig. Das gibt ihnen Halt.

Mihail Gordin: "In Moldova gibt es noch 114 Überlebende des Holocaust. Der deutsche Fonds 'Maximilian Kolbe' bezahlt das Essen für die ehemaligen Häftlinge und hat zwei Besuche nach Deutschland organisiert. Als wir im Jahr 2002 nach Deutschland eingeladen waren, haben sich die deutschen Beamten alle bei uns entschuldigt für die damalige Zeit."

Auf eine Entschuldigung aus Rumänien warten Michael und die wenigen anderen Überlebenden noch bis heute.