Ein Kreuzungspunkt der Sehnsüchte

29.10.2013
Geheimer Treffpunkt für Liebschaften, billige Absteige und Versteck: Der französische Schriftsteller und Philosoph Bruce Bégout widmet sich in einem Essay dem Motel. Für ihn ein Ort, der so intensiv und wahrhaftig von Menschlichkeit zeugt, wie kaum ein zweiter.
Schon aus der Ferne ist ein riesiger blinkender Pfeil zu sehen, der auf ein schmuckloses Haus neben der Straße deutet. Der Parkplatz liegt direkt vor der Tür. Und drinnen: kleine Zimmer mit King-Size-Betten, einer Bibel im Nachttisch und einem Fernseher. Ob sie nun an amerikanischen Highways oder neben deutschen Autobahnen stehen: Motels gleichen sich auf der ganzen Welt wie Abziehbilder. Es sind Orte ohne Eigenschaften, sagt der französische Schriftsteller und Philosoph Bruce Bégout. Und widmet ihnen gerade deshalb einen ausschweifenden Essay.

Angefangen hat alles nach dem Ersten Weltkrieg, an den nordamerikanischen Fernstraßen, erzählt Bruce Bégout. Auf den Zeltplätzen, auf denen Touristen bisher übernachtet hatten, entstehen kleine, bescheidene Holzhütten, angeordnet in U- oder T-Form. Im Dezember 1925 dann erhält die erste dieser neuartigen Einrichtungen die Bezeichnung "Motel". Es ist das Milestone Motel San Luis Obispo, Kalifornien. Bald darauf schießen die Motels wie Pilze aus dem Boden. Sie prägen das Bild der amerikanischen Highways und sind längst auf der ganzen Welt zu finden.

Dabei sind Motels nicht nur Versatzstücke des American way of live, schreibt Bégout, im Hauptberuf Philosophieprofessor an der Universität von Bordeaux. Es sind vielmehr Orte, an denen sich die neuen urbanen Lebensformen zeigen, die geprägt sind von Mobilität, Umherirren und Armut. Im Grunde steckt alles schon in der Bezeichnung, dem Wort "Motel". Unschwer zu erkennen ist es eine Mischung aus "Hotel" und "Motor" und damit der Kreuzungspunkt einer doppelten menschlichen Sehnsucht: der Sehnsucht nach Schutz und Abenteuer, nach Komfort und Rastlosigkeit, nach Sicherheit und Unsicherheit zur gleichen Zeit.

Bégout nähert sich in einem Dutzend Kapiteln auf verschiedenen Wegen dem Motel. Er beschreibt die schmucklose Motel-Architektur, untersucht die Schilder und blinkenden Leuchtreklamen, erzählt von Franchising und Standardisierung und zitiert unzählige Filme und Romane. Dabei kommt der französische Philosoph immer wieder auf zwei Themen zu sprechen. Das erste ist eine Art "Generalmobilmachung", für die das Motel zum Symbol geworden sei. In den Zeiten seiner Entstehung, also in den 1920er-Jahren, standen Wanderarbeiter mit ihrem nomadenhaften Leben am unteren Ende der sozialen Leiter. Heutzutage jedoch ist die Fähigkeit zum Aufbruch wichtiger als Sesshaftigkeit. Der flexible Mensch wohnt ganz selbstverständlich heute in Berlin, morgen in Tokyo und übermorgen in New York. Sein zu Hause gleicht mehr und mehr einem Motel. Hauptsache es gibt ein Bett und einen Internet-Breitbandanschluss.

Während die Mobilität bei Bégout Skepsis hervorruft, widmet sich der Philosoph seinem zweiten großen Thema mit Freude: Es geht um die Anonymität. Mit heimlichem Genuss zitiert er einen FBI-Bericht aus dem Jahre 1940, in dem der Geheimdienst beklagt, Motels seien zu "Hochburgen des Lasters und der Korruption" geworden. Klar, denn die Menschen haben schnell erkannt, welche Segnungen die Anonymität mit sich bringt. Sie nutzen "ihre" Motels ganz nach Belieben: als geheimen Treffpunkt für Liebschaften oder Lagerplatz für nicht ganz legale Dinge aller Art. Diesen Fakt nun nimmt Bégout philosophisch auseinander. Schritt für Schritt erklärt er, wie sich der Motelmensch hinter Anonymität und Uniformität verbirgt, sich so vor der gesellschaftlichen Vereinnahmung schützt und sich einen privaten Raum freier Möglichkeiten erhält.

Bégout forscht schon lange über "das Alltägliche". Der phänomenologische Ansatz, den er verfolgt, wird auch in seinen Motel-Beschreibungen immer wieder deutlich. Er rückt die Kleinigkeiten des Alltags in den Mittelpunkt. Er beschreibt melancholisch die "graue Magie alltäglicher Banalität", schwärmt von "einer Art Zauber des Unbedeutenden". Die Erfahrungen, die man in einem Vorstadtmotel machen kann, mögen auf den ersten Blick bedeutungslos sein. Doch vielleicht, so schreibt Bégout, zeugen sie viel "intensiver und wahrhaftiger von Menschlichkeit" als vermeintlich große Ereignisse wie Geburt und Hochzeit.

Besprochen von Marcus Weber

Bruce Bégout: Motel. Ort ohne Eigenschaften
Aus dem Französischen von Franziska Humphreys
diaphanes Broschur, Berlin 2013
234 Seiten, 17,95 Euro