Ein Kind im KZ

23.01.2008
Kann man ein Kinderbuch über Auschwitz schreiben? Kann man einem Kind von neun Jahren das Schicksal einer von den Nazis verfolgten Altersgenossin vermitteln, ohne entweder zu verharmlosen oder Schaden anzurichten? Es ist auf jeden Fall ein großes Wagnis. Der Autor Michael Krausnick und der Illustrator Lukas Ruegenberg haben dieses Wagnis mit "Elses Geschichte" unternommen - die wahre Geschichte über ein Roma-Kind im Konzentrationslager.
"Zwei Männer in langen Ledermänteln haben Else aus der Wohnung abgeholt, morgens ganz früh, als es noch dunkel war. Else hatte keine Ahnung, was das für Männer waren. Irgendwas mit 'geheim' und 'Polizei' wurde geflüstert. Was wollten sie von ihr? Sie hatte doch nichts ausgefressen?"

Else weiß nicht, wie ihr geschieht. Ihre Eltern sind Roma und haben sie als Baby in eine Pflegefamilie gegeben. Doch davon ahnt Else nichts. Sie ist ein ganz normales Mädchen bei einer ganz normalen deutschen Familie, aus der sie eines Tages herausgerissen und in ein Konzentrationslager verschleppt wird. Was ihr dort begegnet, ist erwachsenen Lesern hinreichend bekannt, und doch ist es neu und aufwühlend, Elses Geschichte zu lesen. Kann ich dieses Buch wirklich einem neunjährigen Kind - die Altersempfehlung des Verlages - in die Hand geben? Ich versuche es. Aber ich wähle nicht irgendein Kind. Hannah ist neun Jahre alt, sie hat einen breiten Lesehintergrund, ein Interesse für die Geschichte und die Möglichkeit, sich mit Erwachsenen auszutauschen.

"Ich hab das mit meiner Mutter gelesen, und ich hatte auch oft Fragen dazu, dann hat sie mir was darüber erzählt. Ich glaub, man braucht einen Erwachsenen, den man dann so Sachen fragen kann, der auch Bescheid weiß, und ich würd es jetzt nicht so alleine lesen."

Das Buch gibt keine Antworten auf das große Warum? Es erzählt einfach. Es erzählt von Elses Ankunft im Konzentrationslager, von gebrüllten Befehlen und von Heimweh, von todkranken, ausgehungerten Menschen, von tätowierten Nummern und einem Berg von verbrannten Puppen.

"Else hatte noch nie so viele Menschen so nah beieinander gesehen. Aber waren das überhaupt Menschen? Fast allen fehlten die Haare auf dem Kopf. Einige waren so mager wie Gerippe und die Augen waren ganz tief zwischen den Knochen. Totenköpfe, lauter lebendige Totenköpfe. 'IchhabDurstIchhabDurstIchhabDurstIchhabDurst', wimmerte ein glatzköpfiges Mädchen. Sie hatte fiebrige Augen und einen traurigen Blick. Bestimmt war sie sehr krank. War hier überhaupt einer gesund? Was war das hier bloß? War das ein Gefängnis, war das eine Krankenstadt? Die meisten nannten es einfach nur KZ. Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau."

Else begegnet auch freundlichen Menschen, die sich um sie kümmern. Wanda, ein Kapo, nimmt sich des Mädchens an und ersetzt ihr für eine Zeit die Mutter. Aber auch Wanda kann Else und auch dem Leser nicht ersparen, dass das Töten und Sterben im Lager trotzdem weitergeht.

"Ich fand es ganz schlimm für die Leute, die da verbrannt wurden in diesen riesigen Häusern mit den Schornsteinen und ich fand das so schrecklich, ich wusste nicht, wie man so was mit Menschen machen konnte. Menschen sind ja auch was besonderes, man kann die ja nicht einfach so verbrennen."

Hannah und Else sind gleichermaßen fassungslos. Schritt für Schritt baut sich das Geschehen auf, beginnt Else zu verstehen, wo sie sich befindet und dass ihr Leben an einem seidenen Faden hängt. Hannah muss ich unterdessen parallel in Elses Erlebnissen nach dem KZ zurechtfinden. Denn immer wieder gibt es Einwürfe in der Erzählung, in kursiver Schrift, die davon erzählen, wie es Else nach ihrer Befreiung durch ihren Pflegevater ergangen ist. Dieser Kunstgriff ist für die jungen Leser zunächst schwer zu durchschauen.

"Ich fand's erstmal bisschen verwirrend, weil ja erst von der Zeit erzählt wurde, wo sie da in dem Konzentrationslager war, und dann wieder von der Zeit danach, und da war man erstmal bisschen verwirrt, was jetzt auf einmal los ist. Wenn man das dann einmal begriffen hat, dann versteht man das auch."

"'Schnell, schnell, Else, trödel nicht herum', rief die Lehrerin Jahre später bei einem Schulausflug. Wie angewurzelt war die inzwischen zwölfjährige Else plötzlich stehen geblieben. Kalter Schweiß lief ihr den Nacken herunter. 'Ich kann nicht, ich kann nicht', schluchzte sie. Irgendjemand hatte das Wort 'Kopfsteinpflaster' gebraucht. Kopf-Sein-Pflaster. Und mit einem Mal hatte sich jeder Stein vor ihren Füßen in einen Totenkopf verwandelt. Ihre Beine waren wie gelähmt. Ein Krankenwagen kam, und Sanitäter mussten sie nach Hause bringen."

So erfährt der Leser nicht nur die Geschehnisse im KZ, sondern gleichzeitig die Folgen der tiefen seelischen und körperlichen Verletzungen. Elses Angst vor Schäferhunden, die Alpträume von Leichen und Totenschädeln - und am schlimmsten: Das doppelte Redeverbot.

"Behalt das für dich, Else - behalt das für dich!"

"Sie musste ja unterschreiben, dass sie das alles nicht erzählen durfte, was der da passiert war, und manchmal konnte sie nicht mehr, dann musste sie es jemandem erzählen, und dann haben die immer gesagt, sie würde lügen und das hätte sie sich alles ausgedacht."

Deshalb ist es ein Glück, dass der Autor Michal Krausnick Elses Gesichte heute erzählt. Gegen das Vergessen und für die Kinder von gestern und heute.

Rezensiert von Maria Riederer

"Elses Geschichte - Ein Mädchen überlebt Auschwitz"
Von Michail Krausnick, Bilder von Lukas Ruegenberg
Nachwort von Romani Rose
Sauerländer Verlag
ab 9 Jahre
72 Seiten. 12,90 Euro