Ein "Kanake in Schweden"

Rezensiert von Barbara Wahlster · 02.08.2006
Der Roman von Jonas Hassen Khemeri ist in Schweden bereits ein Bestseller. Wie der Autor ist auch Halim, der Held des Buches, Sohn einer schwedischen Mutter und eines maghrebinischen Vaters. Er philosophiert in seinem Tagebuch unter anderem über die Schwedisierung der Kanaken. Das Buch leistet einen Beitrag zur Integrationsdebatte.
Halim schreibt Tagebuch, notiert, was so passiert zu Hause und in der Schule, erklärt sich selbst das Leben, die kleinen Streits, die große Politik, seine oft widersprüchlichen Gefühle, seine Abneigungen.

Denn vor allem muss sich der Junge abgrenzen, von seiner eigenen Berührbarkeit, von den Aktionen der "Rotnasen" (wie er die Schweden nennt), von dem pädagogisierenden Jargon in der Schule, von all den Tunten, Tussis und Schwulen. Es gibt schließlich jede Menge Bedarf, sich selbst zu behaupten, bloß nicht angreifbar zu sein, cool zu bleiben, Sieger zu sein.

Dabei findet Halim ziemlich aberwitzige Argumente und entwickelt immer wieder ebenso seltsame wie aufschlussreiche Theorien, etwa indem er "rausphilosophiert", wie das geht mit Schweden und Ausländern an seiner Schule. Unter den Ausländern erkennt er die üblichen Stressmacher, die Fleißtypen und diejenigen, die von den Schweden am meisten gehasst werden: Revolutionskanaken und Gedankensultane.

Und Halim nimmt sich vor, ein Gedankensultan zu werden, einer der alle Lügen durchschaut, was das genaue Gegenteil davon ist, schwedisiert zu werden. Das will Halim nämlich um jeden Preis verhindern. Zumal seine Schule den ihm zustehenden muttersprachlichen Unterricht aus Spargründen streicht.

Also malt er mit seinem Filzer Sterne und Monde in die Toiletten, erkämpft im Küchenkomittee ein muslimisch korrektes Gericht pro Woche, phantasiert, wie er als reichster Promi-Anwalt des Landes exakt vor dem schwedischen Königsschloss ein arabisches Kulturzentrum aufbaut und verliebt sich in eine nette Schwedin, die nichts von ihm wissen will.

Halim ist, wie der Autor Jonas Hassen Khemiri auch, Kind einer schwedischen Mutter und eines maghrebinischen Vaters. Aber wie einem Kamel ohne Höcker fehlt ihm etwas: Die verstorbene Mutter, über die er äußerst vorsichtig nur schreibt, aus Angst vom Schmerz eingeholt zu werden; das Gefühl der Zugehörigkeit, Sicherheit.

Sein melancholischer Vater gibt kein Vorbild ab, liefert keine Identitätsangebote. Die sucht und findet er bei einer alten Frau. Einfühlungsvermögen, banale Lebensweisheiten und reichlich Religion gehören in ihr Repertoire. Für Halim sind es Offenbahrungen, sehr zum Leidwesen seines Vaters, eines aufgeklärten und gänzlich unreligiösen Menschen. Doch Dalanda schenkt Halim das Tagebuch.

Ungeübt fängt er an zu schreiben, mal in wortwörtlichen Kopien des Erlebten, mal im Telegrammstil, aber immer in voll krassem Jargon; eben kein korrektes Schwedisch, wie der Vater ihm vorwirft, sondern durchsetzt von Zoten, Schimpfwörtern, Schrumpfgrammatik.

Allerdings wird der Ich-Erzähler mit der Zeit deutlich wendiger, schafft Spannung, bricht ab, spielt mit der Form und benutzt Halim als Figur in der dritten Person. Zuletzt taucht sogar der künftige Student und Schriftsteller, der er sein könnte auf: der Nachbar Khemiri, der voll schwedisiert ist, aber als Kanake dann doch auch wieder ernst zu nehmen.

Jonas Hassen Khemiri, der Autor, sagt von sich, es sei sein Literatur- und Wirtschaftsstudium gewesen, das ihn schwedisiert habe. Aber nicht so weit, dass er das Gefühl der Fremdheit, die Suche nach Identität und Ausdrucksmöglichkeiten vergessen hätte.

Dieses in Schweden überaus erfolgreiche Buch ist ein Beitrag zur Integrationsdebatte, indem es Innenräume sichtbar macht, die im Gerede über Parallelgesellschaften oder Machotum muslimischer Jugendlicher einfach untergehen, indem es den schwierigen und verrückten, manchmal verzweifelten und komischen Versuch, einen eigenen Platz in der Welt zu finden, ernst nimmt.

Dabei hat Halim, der Kanake in Schweden, einige Vorteile, verglichen mit ähnlichen Jugendlichen in Deutschland: Es gibt in der Schule Betreuer, die sich regelmäßig mit ihm treffen und auf seine Noten achten. Und dann ist da der Vater, zwar bedürftig und verletzlich, aber er hält dem Sohn die Treue und hat eine gänzlich realistische Sicht auf die von Halim so überhöhte "eigene Kultur".
Dem Bestseller in Schweden wünscht man sich ebenso viele Leser in Deutschland.

Jonas Hassen Khemiri: Das Kamel ohne Höcker. Roman
Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
Piper/Nordiska 2006