Ein junges Mädchen verschwindet

17.04.2009
Irgendwo auf der Straße zwischen Fluss und Städtchen muss sie aus ihrem Leben ausgebrochen oder entführt worden sein. Stewart O’Nan beschreibt in "Alle, alle lieben dich" nach dem Verschwinden der 18-jährigen Kim mit schmerzlicher Präzision den Schock der Familie und die an den Nerven zerrende Langsamkeit der Polizei.
Stewart O’Nan, 1961 in Pittsburgh geboren, war Flugzeugingenieur, bevor er Schriftsteller wurde. Er ist ein penibler Tüftler, ein Autor, der die Banalität des Alltagslebens so akribisch beschreibt wie das Drama, wenn es plötzlich hereinbricht. "Mich interessiert", hat er einmal in einem Interview gesagt, "wann gibt ein Mensch auf." Und so sind seine Romane immer wieder ein Ausschreiten von Grenzen, die das Ertragen und Erdulden markieren.

In seinem neuen Buch verschwindet ein junges, auffallend schönes Mädchen, das in einem schlichten Städtchen namens Kingsville in einer schlichten Familie aufwuchs. Ihr Vater Ed ist Baseballtrainer und Immobilienmakler in finanziellen Nöten, ihre Mutter Fran arbeitet im Krankenhaus. Gerade noch hat Kim mit ihrer kleinen Schwester das Autofahren geübt, mit ihren Freunden im Fluss gebadet und sich in ihrem Chevette auf den Weg zu ihrem Job an der Tankstelle gemacht.

Irgendwo auf der Straße zwischen Fluss und Städtchen muss sie abgebogen und aus ihrem Leben ausgebrochen sein. Es sei denn, sie wurde entführt. Denn es gab keinen Grund abzuhauen. In drei Wochen hätte sie Kingsville ohnehin verlassen, um aufs College zu gehen. Sie war kein Flittchen, keine Herumtreiberin. Gewiss, sie hatte ihre Geheimnisse, ihre Leichtfertigkeiten. Sie war 18 Jahre alt.

Und auf einmal ist sie nicht mehr da. O’Nan beschreibt mit schmerzlicher Präzision den Schock, die Angst, die alptraumhaften Fantasien, die Selbstvorwürfe, die an den Nerven zerrende Langsamkeit der Polizei, die ruhelose Betriebsamkeit der Mutter, die Flugblätter druckt, Interviews gibt, eine Website einrichtet. Kims Vater sucht derweil mit Freiwilligen die Stadt und jeden Winkel der Umgebung ab, mit Stöcken auf Büsche schlagend. Er muss seine Tochter finden, muss etwas tun. Während Kims Schwester meist mit fest verstöpselten Ohren auf ihrem Bett liegt, Musik hört, liest und nicht mehr essen mag.

Reporter belagern den Ort und das Haus der Familie. Neugier und Mitgefühl vermengen sich und weichen alsbald einem trägen Desinteresse. Das Städtchen kehrt zu sich zurück.

O’Nan ist ein besessener Kleinstrichzeichner, der mit nadelspitzem Stift jedes Detail festhält. Es fehlt kein Kleidungsstück, kein Anruf, keine Gefühlsverstörung, kein Angstszenario, keine Zubereitung des Abendessens, kein Glas Pinot Grigio, keine Tages- und keine Nachtzeit, keine Leere, keine Suchtruppliste, keine Zärtlichkeit. Als Leser wird man hineingewoben ins Geschehen. Fühlt sich alsbald als kleiner Faden im großen Stoff. Schrickt zusammen, wenn das Telefon klingelt. Begleitet Kims kleine Schwester nach den Sommerferien zum Spießrutenlauf in der Schule, wo jeder weiß, was geschah. Geht mit Kims Mutter zum Weihnachtseinkauf. Soll sie für Kim ein Geschenk besorgen? Man rätselt, grübelt, kämpft und verzagt mit ihr.

In jedem Kapitel begleiten wir einen der Betroffenen auf der Suche, im Alltag, im Leben, in dem Versuch, dieses Leben zu meistern. Zwei Jahre lang bleiben wir bei ihnen. Bis Kims Leiche gefunden wird. Und begreifen vor allem eines: Es gibt keine angemessene Reaktion auf ein solches Geschehen, keine Norm. Jeder schlägt sich auf seine Art durchs Gestrüpp der wechselnden Gefühle.

Mit glashellem Blick erzählt O’Nan alles und kommentiert nichts. Und entlässt uns doch aus dem seelenschweren Buch nicht nur beunruhigt. Es gibt auch eine Sanftheit, etwas Tröstliches und vielleicht sogar eine Zukunft. Ohne Kim.

Rezensiert von Gabriele v. Arnim

Stewart O’Nan: Alle, alle lieben dich. Roman
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Verlag
Reinbek bei Hamburg 2009
416 Seiten, 19,90 EUR