Ein Jahrhundert in Form von Geschichten

25.01.2008
Wenn sich Geschichten weitläufig verzweigen, dann laufen sie Gefahr, an den Rändern zu zerfasern, weil ihnen ein erzählerisches Zentrum fehlt. Die Geschichte, die der 1980 geborene polnische Autor Jacek Dehnel in seinem Debütroman "Lala" erzählt, hat zwar ein erzählerisches Zentrum, dennoch ufert das Ganze durch die Häufung von Personen und Geschichten zu weit aus.
Zwar erscheinen dem Erzähler Jacek die Abschweifungen bedenklich, zu denen es immer wieder kommt, wenn seine Großmutter anfängt, Geschichten zu erzählen, doch er unterbricht sie nicht. Als Nachgeborener schreibt er auf, was seine Großmutter Lala erlebt hat. Offensichtlich maßt er sich nicht an zu entscheiden, was erinnert werden soll und was vergessen werden kann.

Die Großmutter erzählt ihr Leben, und sie erzählt dabei von den politischen Unbilden, die sie erlebt hat. Zunächst kommen die Deutschen ins Dorf, nach ihnen die Russen. Zu jeder Geschichte ein Name, zu jeder Person findet sich eine Episode, und es mangelt nicht an Namen und Geschichten. Lalas Biographie wird umrankt von vielen Erzählfäden. Sie führen von der eigenen Lebensgeschichte zu der des Dorfes Lisów und zu unzähligen Verwandten, Tanten und Bekannten der alten Dame. Diese imposante Erzählerin webt einen Geschichtenteppich, in dem alles aufgehoben ist, was sie erlebt hat. Die Erzählfäden gehen ihr nicht aus, ihr Vorrat an Geschichten ist unerschöpflich.

Diese energische Frau hat lernen müssen, sich im Leben durchzusetzen. Ursprünglich hatte sie daran gedacht, ihre Lebensgeschichte selbst aufzuschreiben, aber mit der Geburt des Enkelsohnes musste sie diesen Plan aufgeben. Nun schreibt er ihre Geschichten auf. Sie hat ihm als Erbe ein Jahrhundert in Form von Geschichten vermacht, und er kann dieses Erbe nicht einfach beiseite legen.

Jacek fühlt sich nicht allein diesem Erbe verpflichtet, das er an seine Leser weitergibt, sondern auch seiner immer vergesslicher werdende Großmutter. Als ihr die Geschichten wegrutschen, sie sich nicht mehr erinnert, wechselt der Hörer Jacek die Rolle und wird zum Erzähler. Er muss ihr erzählen, was sie erlebt hat. Der Adressat wird zum Sender, nur die Geschichten, die zwischen beiden erzählt werden, bleiben die gleichen. Der Enkel gibt den Erzählfaden nicht aus der Hand.

Jacek Dehnel hat eine Genealogie in Prosa geschrieben. Seine Familiensaga basiert auf einer klugen Idee: Der Faden des Erzählens muss von Generation zu Generation weiter gereicht werden. Aber wenn eine Familiengeschichte den Leser packen soll, braucht es mehr als einen bewegenden Einfall.

Rezensiert von Michael Opitz

Jacek Dehnel: Lala
Übersetzt von Renate Schmidgall
Rowohlt Berlin. 2008
351 Seiten. 19,90 Euro